Bielefelder Tageblatt (BW) ,
16.08.2005 :
(Bielefeld) Das Erinnern ändern / Interview: Volkhard Knigge über Zeitzeugen, tote Geschichte und Jugendkultur
Von Elmar Kramer
Bielefeld. Selten ist so viel über Gedenken und Gedenkstätte berichtet worden, wie in den vergangenen Wochen und Monaten, etwa zum neuen Holocaust-Mahnmal, zum 60. Jahrestag des Kriegsendes oder zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Ein Gespräch mit Volkhard Knigge (51), gebürtiger Bielefelder, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Ist es für eine Gedenkstätte wichtig, öffentlich im Gespräch zu sein?
Knigge: Wichtiger, als einfach im Gespräch zu sein, ist öffentliche Aufmerksamkeit für die Themen, die Gedenkstätten in Erinnerung halten wollen. Sie erinnern ja an die negativen Seiten der eigenen Geschichte, an Diktatur, die Ausgrenzung Andersdenkender oder die mörderischen Folgen rassistischer Überlegenheitsvorstellungen. Die kritische Auseinandersetzung mit den negativen Kapiteln der Vergangenheit hilft, Handlungsorientierungen für eine menschenwürdige Zukunft zu finden.
Die Zeitzeugen werden weniger. Wie kann Vergessen und Verdrängen verhindert werden?
Knigge: Geschichtsbewusstsein ist auch ohne Zeitzeugen möglich. Menschen sterben, und wir haben trotzdem genaue Vorstellungen von der Vergangenheit. Es gibt glücklicherweise viele historische Quellen. Niemand kann deshalb behaupten, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit dem Schwinden der Zeitzeugen zwangsläufig zu Ende geht. Es geht mit den Überlebenden der Lager aber eine moralische Instanz verloren, und es geht die unmittelbare Präsenz der Erfahrung der Überlebenden verloren, die auf einzigartige Weise zu berühren vermag und Lernprozesse in Gang setzen kann.
Wird sich unsere Erinnerungskultur verändern müssen?
Knigge: Weil Gedenken auf historisches Wissen angewiesen ist, wird sie sich weiter professionalisieren müssen, auf dem Feld der Dokumentation, des Ausstellungmachens und der Bildungsarbeit. Wer wollte, konnte sich lange für die Zeit nach den Zeitzeugen rüsten, ihre Erfahrungen aufzeichnen, Nachlässe sammeln, Archive erschließen.
Was bedeutet das für Institutionen ?
Knigge: Institutionelle Differenzierung durch den weiteren Aufbau von Sammlungen und Archiven, pädagogischen Abteilungen und so weiter, ständige selbstkritische Überprüfung der eigenen Arbeitsweisen auf Zeitangemessenheit, Bewahrung der Glaubwürdigkeit durch die Verweigerung floskelnhaften Geredes oder leerer Rituale.
Was sagen Sie Kritikern, die "Professionalisierung" in diesem Zusammenhang für ein Unwort halten?
Knigge: Es ist naiv, sich daran vorbeizudrücken. Professionalisierung heißt ja nicht, die Geschichte so zu historisieren, so zu musealisieren, dass sie als tote und abgelegte daherkommt, dass sie gewissermaßen im Museum beerdigt wird.
Interessiert sich die Jugend genug für das, was Sie zeigen ?
Knigge: Das Problem sind nicht die Besucherzahlen – allein nach Buchenwald kommen pro Jahr etwa 600.000 Menschen. Aber nicht alle kommen aus guten Gründen. Es kommen Überlebende, Angehörige, junge und alte Menschen aus aller Welt, die genau wissen wollen, was geschehen ist und die Konsequenzen daraus ziehen. Sie nehmen sich Zeit und lassen sich berühren. Es gibt aber auch die Horror-Disneyland-Besucher und Dark-Tourism-Fans, die nur die Sensation suchen. Und es kommen immer mehr Schüler, die von ihrem Lehrer nicht vorbereitet worden sind. Es stellt uns vor große Probleme, wie Erwachsene manchmal Jugendliche geradezu in Gedenkstätten schleifen und sich selbst verdrücken.
Zum Beispiel?
Knigge: Ich erinnere mich an den Lehrer, der am Lagertor sagte: "So, und jetzt zeige ich euch das KZ live." Dem konnte man nur sagen: "Da kommen Sie 60 Jahre zu spät." Man merkte, wie jemand seine ganze Hoffnung darauf setzte, dass in zwei Stunden Gedenkstättenbesuch etwas automatisch gelingt, was in der Schule offenbar nicht gelungen ist.
Sind die Extreme zwischen verschiedenen Jugendkulturen größer geworden?
Knigge: Ja. Es gibt hochinteressierte, engagierte, wunderbare junge Leute. Und auf der anderen Seite sozial und kulturell desorientierte, um nicht zu sagen verwahrloste Jugendliche.
Was heißt verwahrlost?
Knigge: Ich habe den Eindruck, viele wissen nicht, wie man mit anderen lebt, freundlich Beziehungen herstellt, Gefühlen Ausdruck gibt, einen Dialog führt, sich konzentriert mit etwas auseinander setzt, sich berühren lässt oder Verantwortung übernimmt. Viele gehen miteinander sehr rüde um. Es bedrückt, dass die Schere zwischen diesen beiden Gruppen immer weiter auseinander geht. Die Zwischenschicht, die es vor Jahren noch gab, verschwindet.
Wächst diese Gruppe, die Sie als verwahrlost bezeichnen?
Knigge: Mir scheint, sie wächst. Hinzu kommt das Problem rechtsextremer Jugendgruppen, das nicht nur, aber besonders auch in den jungen Bundesländern weit verbreitet ist.
Wie kann es gelingen, den Nachwuchs an die Hand zu nehmen?
Knigge: Wichtig ist, dass gerade den Jüngeren erlaubt sein muss, uneingeschänkt zu fragen, welche Relevanz die Vergangenheit für ihr Leben und ihre Zukunft hat und dass sie darauf eine seriöse, historisch informierte und ethisch begründete Antwort bekommt. Menschen in "Erinnerungshaft" zu nehmen, tötet das Interesse. Klar werden sollte, dass die Auseinandersetzung sich lohnt. Es ist für jeden Einzelnen besser, in einer Gesellschaft zu leben, in der sich Menschen gegenseitig ihre Würde und ihre gleichen Rechte verbürgen, als in einer Gesellschaft, die rassistisch hierarchisiert, Menschen ausgrenzt oder Bürger- und Menschenrechte missachtet. Verfolgung hat viele Gesichter. Es gibt keine Garantie, nicht irgendwann zu einer verfolgten oder ausgegrenzten Gruppe zu gehören.
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