Lippische Landes-Zeitung ,
08.08.2005 :
(Bad Salzuflen) Das zweite Leben des Johannes G. / Wie Amalie Brüning nach 60 Jahren erfuhr, dass ihr Vater den Krieg überlebt und neu geheiratet hatte
Bad Salzuflen. 60 Jahre lang hat Amalie Brüning gedacht, dass eine Kugel in Warschau ihren Vater getötet hat. "Der Feind kommt immer näher", hatte er geschrieben. Es war das letzte, das sie von ihm hörte. Bis kürzlich ein Brief in Kyrillisch ankam. Da stand drin, dass der Vater in Russland neu geheiratet und sechs Kinder gezeugt hatte. "Ich begreife es nicht", sagt die Salzuflerin. Heute wird sie ihren neu gewonnen Bruder Vladimir treffen. Der Kreis schließt sich.
Die Geschichte beginnt nahe der Wolga. Von dort wurden Amalie Brünings Eltern nach Minsk vertrieben, weil sie als Deutschstämmige in Stalins Reich nicht gewollt waren, von Hitlers Truppen hingegen "heim ins Reich" geholt werden sollten. Vater Johannes kam in die Wehrmacht und 1944 vermeintlich beim Warschauer Aufstand - der zu den fürchterlichsten und brutalsten Gemetzeln des Zweiten Weltkrieges zählt - oder bei anschließenden Gefechten um die Stadt mit der Roten Armee ums Leben.
Amalie Brüning, heute 72 Jahre alt, ihre vier Geschwister und die Mutter wurden zunächst in ein Internierungslager gesteckt, dann trennten die Russen die älteren Kinder von ihren Müttern und steckten sie in Heime, von wo aus sie Arbeitseinsätzen zugewiesen wurden. Amalie Brünings Mutter überlebte das nicht - vor Gram über den Verlust ihrer Tochter verhungerte sie 1947 in einem Lager nahe dem Ural. Sie konnte nicht mehr essen.
Heute ein Treffen mit Stiefbruder Vladimir
Amalie Brüning nimmt die Brille ab, als sie erzählt. Sie trocknet ihre Augen. Was geschehen ist, ist geschehen. Aber es ist längst nicht vergessen. Jeden Tag kamen viele Kinder in den Heimen ums Leben. Amalie aber wurde nach dem Krieg als 13-jährige aus Polen ausgewiesen und gelangte nach Halle, wo sie in einer Familie unterkam. Seit 1953 lebt sie in Bad Salzuflen und kämpfte dafür, ihre Schwester und die beiden Brüder zu finden und nach Deutschland zu holen. Was tatsächlich gelang. Auch über das Schicksal des Vaters versuchten die Geschwister, Auskunft zu erlangen. Jeder Versuch schlug fehl.
Und dann kam vor einigen Wochen dieser Brief. Ein Schreiben vom kirchlichen Suchdienst aus Stuttgart. Da suchte ein Vladimir Gertje Angehörige in Deutschland. Zehn Jahre hatte er gebraucht, um einen Kontakt zu erhalten. Amalies Jugendname war Gertje. Und der Vater Johannes hieß natürlich auch Gertje. Konnte da ein Zusammenhang bestehen? Amalie und ihre Geschwister meldeten sich zurück. Etwas später kam dann die offizielle Nachricht: Der Vater hatte den Krieg überlebt. Wenig später traf ein Brief von Vladimir Gertje ein, der Fotos von seiner Familie und seinen Geschwistern schickte. Und eines vom Grab des Vaters.
Amalie Brüning schüttelt mit dem Kopf. "60 Jahre lang habe ich gedacht, er ist tot. Daran habe ich nicht ein einziges Mal gezweifelt. Und jetzt stellt sich heraus, dass er sogar wieder neu geheiratet und sechs Kinder hatte. Das ist zu viel auf einmal, um es zu begreifen." Was nach den Kämpfen in Warschau geschehen war, schilderte der neu gewonnenen Bruder Vladimir in seinem Brief, den sich die Bad Salzuflerin von einer des Russischen kundigen Nachbarin übersetzen ließ. Er war in Gefangenschaft geraten, hatte im Lager eine Frau kennen gelernt, die für das Essen zuständig war, und diese später geheiratet. Nach der Gefangenschaft lebte die neue Familie Gertje in Perm am Ural. Sechs Kinder wurden geboren, und 1959 kam der Vater bei Unfall ums Leben: Er hatte auf dem Bau gearbeitet und stürzte von einem Dach.
Neue Ehe in Russland und sechs Kinder
Der Brief von Vladimir liegt sorgsam zusammengefaltet neben den Fotos, die Amalie Brünings Vater in Uniform zeigen, neben dem Bild mit den erklärenden Pfeilen zu der neuen Verwandtschaft am Ural und neben den Bildern, die Amalies Geschwister am Grab des Vaters mit Bruder Vladimir zeigen: "Die anderen hat es nicht gehalten. Die mussten sofort los nach Russland. Ich konnte nicht mitfliegen. Ich darf nicht. Der Blutdruck", sagt die Bad Salzuflerin. Aber heute kommt Vladimir Gertje mit seinem Sohn nach Deutschland, und heute wird sie ihn auch kennenlernen. "Wir Geschwister haben alle zusammengelegt, um ihm den Flug zu bezahlen", erzählt Amalie Brüning und zuckt mit den Schultern. Wie das Treffen werde, keine Ahnung. Sie lasse sich überraschen.
"Vladimir hat sich gedacht: Als sein Vater neu heiratete, da war der schon 38 Jahre alt. Ledige Männer in diesem Alter, davon ging er aus, mussten einfach schon mal verheiratet gewesen sein. Vielleicht hat er ja auch etwas über uns erzählt. Vladimir hat seinen Vater genau wie meine anderen Brüder aus der ersten Ehe gar nicht gekannt - als er starb, war Vladimir gerade geboren, und als wir gedacht hatten, unser Vater sei gefallen, waren die Jungs erst vier und zwei Jahre alt." Der verdammte Krieg. Sie seufzt. Ob sie ihrem Vater etwas übel nehme? Nein. "Was sollte er machen? Er hatte ja keine Ahnung, was mit uns allen geschehen war und ob wir tot waren. Er hatte auch keine Möglichkeit, uns zu finden. Er durfte nach der Gefangenschaft nicht raus aus Russland. Da hat er sich gedacht: Fange ich eben ein zweites Leben an." Was er in all den Jahren getan hat und ob es ihm gut ging in Perm, das wird Amalie Brüning heute von ihrem Stiefbruder Vladimir erfahren. Und auch, ob er vielleicht einmal in einer stillen Stunde davon erzählt hat, dass es in seinem früheren Leben ein kleines Mädchen mit Zöpfen gab, das so gerne lachte und das Amalie hieß ...
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