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Gütersloher Zeitung / Neue Westfälische , 23.03.2002 :

Allianz der Unvernünftigen / Bürger einer Kleinstadt fordern neue Spielregeln im Umgang mit Ausländern

Von Jeanette Wedeking

Harsewinkel. Man stelle sich vor, man torkelt mit über zwei Pronulle Alkohol im Blut nach einer langen Karnevalsnacht nach Hause. An der Ecke kommen ein paar unliebsame Gesellen dazu, es wird gelallt, gepöbelt und eine Faust fliegt einmal ins Gesicht. Doch der Geschlagene, er steht nicht wieder auf. Er ist tot. Was Staatsanwaltschaft und Gerichtsmedizin als Unglücksfall und die Stadtväter als Einzelfall verbuchen, ist für die Bürger Harsewinkels der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

"Wir müssen uns an die Fakten halten", appelliert Bürgermeister Reinhard Haase (parteilos), seit Wochen bemüht, den überschäumenden Emotionen in der Bevölkerung mit Argumenten zu begegnen. Die Fakten sind, dass das 31 -jährige Opfer nicht durch die Gewalteinwirkung starb. Daher mussten die Täter von der Justiz auf freien Fuß gesetzt werden, obgleich sie durch Vorstrafen bereits aktenkundig waren. Fakt ist auch, dass vier der fünf Beschuldigten ausländischer Herkunft sind. Und spätestens an diesem Punkt wird die Sache brisant.

Bei 23.500 Einwohnern zählt Harsewinkel mit den beiden beschaulichen Ortsteilen Greffen und Marienfeld einen "Fremden"-Anteil von 22 Prozent. 76 verschiedene Nationen, vor allem Menschen aus der Türkei, Osteuropa und Armeeangehörige aus Großbritannien zog es in den vergangenen Jahren in die Nachbarstadt von Gütersloh. Räumliche Lösungen mussten her, vor allem zu Beginn der 90er Jahre, als der Zuzug noch nicht durch eine gesetzliche Quote geregelt wurde. 200 Wohnungen standen leer im Wohnviertel "Dammann's Hof" durch den Abzug der Royal Air Force am nahegelegenen Flughafen der britischen Streitkräfte. Heute gelten die Bauten als Ghetto und das Viertel entwickelte sich mit seinen ursprünglich 1.200 Bewohnern zum Hassobjekt für die einheimische Harsewinkler Bevölkerung.

Ausländische Schlägertrupps zogen nach Auskunft der Polizei Mitte der 90er Jahre durch die Straßen, Integrationsmaßnahmen steckten in den Kinderschuhen und verschiedene Glaubensgemeinschaften errichteten rundum sichtbar ihre Gotteshäuser. Die Bevölkerung muckte auf, fühlte sich überrumpelt und wählte weiter CDU mit dem Ruf nach mehr Sicherheit.

Doch was geschah? "Nichts!" riefen die vermeintlich Ängstlichen auf einer offenen CDU-Fraktionssitzung am 4. März mit dem Schwerpunkt „Sicherheit" und machten ihrer Wut in aller Öffentlichkeit Luft. "Wir müssen uns wehren, das machen DIE ja auch!" In bierseeliger Laune standen im größten Saal der Ortskneipe 400 Menschen beieinander und beklatschten den Ruf nach einer Bürgerwehr gegen die vielen "Kümmeltürken", nach Überwachungskameras und Selbstjustiz. Jeder, der einen Ausländer kennt, durfte sich zu Wort melden. Ein Schuldiger sollte bestraft werden für den Tod des jungen Stefan S. ("Wir wissen, wer das war!").

Flugblätter der NPD tauchen auf

Weder Politiker noch die geladene Polizei sahen sich im Stande, die aufkochende Stimmung mitsamt ihren rechten Parolen an diesem Abend zu beruhigen. Seitdem sammelt eine Belegschaft Unterschriften für die Entlassung ihres türkischstämmigen Mitarbeiters, der in jener Karnevalsnacht beteiligt war. Seitdem tauchen Flugblätter der NPD, der "Initiative Widerstand - jetzt!" und Plakate mit Rudolf Hess auf. Nach knapp 15 Jahren kommunaler Zuwanderungspolitik scheint die Bevölkerung nun die Ausländerproblematik selbst in die Hand genommen zu haben.

"Harsewinkel ist nicht Frankfürt hinterm Bahnhof", beteuert Andreas Krummrey, Abteilungsleiter Gefahrenabwehr/Strafverfolgung der Polizeibehörde Gütersloh, als er um eine Einschätzung gebeten wird. Ein Blick in die Kriminalitätsstatistik beweise, dass das Städtchen nicht mehr auffällig sei. "Sollten wir feststellen, dass die Kriminalität sprunghaft steigt, werden wir sofort mit mehr Personal reagieren", verspricht Landrat Sven-Georg Adenauer.

Doch Statistik hilft in diesem Fall nicht. Die Menschen im Saal wollen nicht wissen, welche Anstrengungen Polizei und Kommune gleichermaßen in den vergangenen Jahren unternommen haben. Einzig das subjektive Empfinden ist ausschlaggebend. Jenseits der Stammtischdiskussion ist die Suche nach dem Grund dafür schwierig. "Wenige richten hier viel an", sagt Polizeisprecher Karl-Heinz Stehrenberg und meint damit die gut drei Dutzend Straftäter, die die Polizei inzwischen per Handschlag festnimmt und der Justiz übergibt. Doch ein paar Autoaufbrüche reichen dem Jugendrichter nicht, um einen Kleinkriminellen mit festem Wohnsitz einzusperren. Eine Verhandlung erfolgt meist erst Monate nach der Tat, und so glauben vor allem osteuropäische Jugendliche, Polizisten seien "Weicheier". "Das trägt nicht gerade zur Motivation der Beamten bei", weiß Andreas Krummrey. "Was wir vermissen, ist eine Strafe, die auf dem Fuße folgt, als erzieherisches Mittel." Jetzt aber brauche man erst einmal eine Allianz der Vernunft.

Veranstaltungen sorgfältig vorbereiten

Weil in Harsewinkel aber momentan keiner mehr so richtig vernünftig sein will, spricht Bürgermeister Haase derzeit viel mit den Schutzbeamten vor Ort. Besuchern erzählt der Ur-Harsewinkler gerne die vielen positiven Beispiele aus seinem Städtchen, in dessen Rathaus er seit 40 Jahren wirkt. Dennoch wurde die Stadtwacht jetzt aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst und patroulliert wieder durch die Straßen. Eine erneute Bürgerbefragung ist geplant. Die nächsten Veranstaltungen sollen sorgfältig vorbereitet werden, damit es nicht zu Ausschreitungen kommt. Neben denen, die "nur gerne mitgrölen", kennt der Verfassungsschutz Bielefeld acht bis zwölf organisierte Neonazis aus dem Raum Harsewinkel-Greffen, die regelmäßig in Erscheinung treten.

Auch die Antifaschistische Jugendorganisation fühlt sich nach den Entwicklungen in der Stadt wieder auf den Plan gerufen mt Aktionen gegen Rechts. "Seltsamerweise kommen die meisten Mitglieder der NPD/JN aus dem Raum Harsewinkel/ Greffen/Versmold/Sassenberg", so ein Mitglied der Sozialistischen Kulturarbeit Gütersloh. Dort wird die Szene genauestens beobachtet. Die Erfährung:

Nach der Neonazi-Hochphase in den 80er Jahren habe die organisierte rechte Szene keine größere Rolle mehr in der ländlichen Region rund um Gütersloh gespielt. Jetzt aber sei man beunruhigt: "Es wächst was nach."

23./24.03.2002
lok-red.guetersloh@neue-westfaelische.de

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