WebWecker Bielefeld ,
20.07.2005 :
(Büren) Zu Unrecht in Abschiebehaft
Etwa dreitausend Menschen werden nach Angaben des Vereins "Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren" in NRW pro Jahr in Abschiebehaft genommen, nach Meinung des Vereins befanden sich einige hundert von ihnen in den vergangenen Jahren zu Unrecht im Gefängnis. Dass die Haftanträge der Ausländerbehörden wiederholt gegen die geltenden Richtlinien verstoßen, ist auch im Innenministerium bekannt. Das geht aus dem Protokoll einer Dienstbesprechung hervor, zu der das Ministerium am 12. Januar Vertreter von Bezirksregierungen, Zentralen Ausländerbehörden, des Amtsgerichts Paderborn und der Abschiebehaftanstalt Büren bestellte.
Von Mario A. Sarcletti
"Die Bezirksregierungen werden die Ausländerbehörden zur strikten Anwendung der Richtlinien anhalten". Immer wieder taucht der Satz im Protokoll einer Dienstbesprechung vom 12. Januar diesen Jahres auf, bei dreizehn von sechzehn Themenkomplexen erging diese oder eine ähnliche Anweisung an die Bezirksregierungen. Der Besprechung in Büren vorausgegangen war ein Fachgespräch der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen im November vergangenen Jahres. "Abschiebungshaft – alles nach Recht und Gesetz?" war der Titel der Veranstaltung, eine Frage die Frank Gockel vom Verein "Hilfe für Menschen in Abschiebehaft in Büren" in einem Vortrag klar verneinte. Auch Frauen und Opfer von Menschenhandel würden entgegen der Rechtslage inhaftiert, berichtete zudem Anna Maria Scherber von der Frauenberatungsstelle Düsseldorf. Sie betreut weibliche Abschiebehäftlinge, die in Neuss inhaftiert sind.
Bei dem Fachgespräch beschrieb Scherber anhand von Einzelfällen die rechtswidrige Praxis im Umgang mit Frauen, die Opfer von Menschenhandel geworden sind. Die Richtlinien des Landes sehen vor, dass diesen vier Wochen lang die Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise gegeben werden muss, dennoch wandern viele direkt in Haft. Sollten die Frauen in einem Strafverfahren - zum Beispiel gegen ihren Zuhälter – als Zeugen in Frage kommen, müssen sie eine Duldung erhalten, Abschiebehaft wäre damit obsolet.
So hätte Oksana nicht in Abschiebehaft genommen werden dürfen. Sie war nach Misshandlungen aus der Wohnung eines Deutschen geflohen, der sie zur Prostitution gezwungen hatte. Die von einem Passanten, der ihr bei der Flucht half, gerufene Polizei kümmerte sich jedoch nicht um den Gewalttäter, sondern verhaftete Oksana. In der Abschiebehaft begegnete ihr Anna Maria Scherber. "Oksana saß vor mir, ihr Gesicht war grün und blau", erinnert sich Scherber. Aber weder die Verletzungen noch die Bereitschaft Oksanas als Zeugin auszusagen änderte nichts an der Haft. "Die Polizei zeigt kein Interesse an der Verfolgung des Täters", sagt Scherber. Erst die Kriminalpolizei eines anderen Ortes, in dem Oksana zur Prostitution gezwungen worden war, ist an der Zeugenaussage interessiert und die junge Frau wird aus der Haft entlassen.
Auch für Männer setzt das Land Nordrhein-Westfalen enge Grenzen für Abschiebehaft. Sie darf nur verhängt werden, wenn sie der Sicherung der Abschiebung dient. "Kein Haftgrund ist: "abgelehnter Asylbewerber" oder "Kosten"" heißt es explizit in dem Protokoll der Dienstbesprechung. Dass sich sowohl Ausländerbehörden als auch Richter immer wieder über diese Vorgabe hinwegsetzen, zeigt ein Schreiben der Zentralen Ausländerbehörde (ZAB) Bielefeld über die "Sonderrückführung" von Nepalesen. "!Um dem großen Arbeitsaufwand und den nicht unerheblichen Kosten Rechnung zu tragen, sollte der Betroffenen dann möglichst schnell in Sicherungshaft genommen werden", heißt es da.
Untertauchen bei der Ausländerbehörde?
Die Ausländerbehörden sind zudem eigentlich dazu verpflichtet, den Haftgrund präzise anzugeben. So müssten sie darlegen, "warum mildere Mittel zur Vermeidung von Abschiebungshaft ... nicht in Frage kommen", wie es in den Richtlinien des Landes heißt. Mildere Mittel heißt, ob es andere Möglichkeiten gibt, den Betroffenen vom "Untertauchen" abzuhalten. Denn nur wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass sich der Migrant der Abschiebung entziehen will, darf Abschiebehaft verhängt werden. Deshalb ist es nur schwer nachvollziehbar, dass Menschen in einer Ausländerbehörde bei der Verlängerung ihrer Duldung verhaftet werden. "Mit Verlaub gesagt, die Ausländerbehörde ist sicherlich eine der letzten Stellen, an die sich ein Flüchtling vor seinem Untertauchen wenden wird", formulierte denn auch Frank Gockel bei dem Fachgespräch im November.
Auch gegen eine weitere Voraussetzung für Abschiebehaft verstoßen Ausländerbehörden und Amtsrichter immer wieder: "Die Sicherungshaft ist unzulässig, wenn feststeht, dass die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten 3 Monate durchgeführt werden kann und der Ausländer das Abschiebungshindernis oder die Verzögerung nicht zu vertreten hat", schreiben die Richtlinien unter Ziffer 3.2.2 vor. Dass er keine Papiere hat, ist nach den Richtlinien "kein ausreichender Grund für die Inhaftierung".
Dennoch werden immer wieder papierlose Marokkaner oder Pakistani inhaftiert, deren Herkunftsländer keine Passersatzpapiere ausstellen, weshalb sie auch nicht abgeschoben werden können. Auch Nepal weigert sich meist selbst bei Personen, deren Identität geklärt ist, entsprechende Dokumente auszustellen. "Für ca. 40 Personen, deren Identität geklärt war und für die Heimreisedokumente bei der Botschaft beantragt wurde, wurden ganze 6 Dokumente in den letzten 2 Jahren ausgestellt", stellte im März 2004 die ZAB Bielefeld fest. Ist die Identität ungeklärt kann praktisch nie abgeschoben werden. "Alle Fälle ohne Nachweise werden zur angeblichen Überprüfung nach Nepal gesandt, wobei mir nicht ein Fall bekannt ist, dass jemals eine Antwort von der Botschaft an uns weitergegeben wurde", beschrieb im März 2004 ein Mitarbeiter der ZAB seine Erfahrungen.
Schwierig ist die Beschaffung von Reisedokumenten auch bei indischen Staatsbürgern. Sie dauert meist länger als drei Monate. Da es aber "Fälle gibt, in denen das Passersatzpapier auch bei Passlosigkeit innerhalb von drei Monaten erlangt werden konnte", wie es in dem Protokoll der Dienstbesprechung heißt, hält das Innenministerium Abschiebehaft in diesen Fällen für zulässig. Dass jedoch von mehr als fünfzig Indern ohne Papiere, die seit 2002 bis zu 262 Tage (Stand: Oktober 2004) in Abschiebehaft saßen, nur einer abgeschoben wurde, relativiert diese Einschätzung. "Zur Zeit sitzen auch nur noch zwei Inder in Büren, vor der Dienstbesprechung waren es immer so um die fünfzehn", erklärt Frank Gockel. Er vermutet, dass die Dienstbesprechung zu einer Änderung des Vorgehens geführt hat.
Noch strenger sind die Richtlinien, wenn es um die Inhaftierung von Minderjährigen geht. Nicht drei Monate, sondern nur sechs Wochen Abschiebehaft dürfen über Jugendliche unter 18 Jahren verhängt werden. Aber auch dagegen verstoßen Gerichte und Ausländerbehörden. In zumindest zwei Fällen genehmigten im vergangenen Jahr die Amtsgerichte Kerpen und Bocholt drei Monate Haft für einen 17-Jährigen. "Aktuell ist ein 16-Jähriger in Büren inhaftiert, bei dem das Amtsgericht Köln drei Monate Haft genehmigt hat", berichtet Frank Gockel auf Anfrage des WebWeckers von einem aktuellen Fall.
Bei dem Fachgespräch im November kritisierte Reiner Lindemann vom Amtsgericht Moers, in dessen Zuständigkeit das im Januar geschlossene zweite Abschiebegefängnis in NRW lag, denn auch seine Richterkollegen: "Ich bin auch auf Akteninhalte gestoßen, die mir von der Art der Gesetzesbeachtung und – behandlung sehr fremd vorkamen", formulierte er diplomatisch. "Ich habe schon oft überlegt, über die vielen mir begegneten Auswüchse Aufzeichnungen zu fertigen und in einer Broschüre oder ähnlichem festzuhalten. Es käme eine Menge zusammen", fügte er hinzu.
"Richter wussten nicht viel von Gesetzesmaterie"
Vor allem in den Anfangsjahren seiner Tätigkeit – Lindemann ist seit 1993 für Abschiebungshaft zuständig – sei "der Eindruck sehr stark vorhanden" gewesen, "dass in Abschiebungshaftsachen Richter eingesetzt waren, die von der anzuwendenden Gesetzesmaterie nicht viel wussten und, weil es sich im Rahmen der Geschäftsverteilung offenbar oft um oktroyierte Geschäfte "quasi so nebenbei" handelte, auch keine Anreize verspürten, sich zu bilden oder fortzubilden", stellte Lindemann seiner Zunft ein schlechtes Zeugnis aus. Als Konsequenz aus dem Dienstgespräch wurde den Richtern eine Fortbildung verordnet. "Die erste seit zehn Jahren", kritisiert Frank Gockel.
Vielleicht ist so auch der Umgang mit Haftverlängerungsanträgen möglicherweise auf Unkenntnis der gesetzlichen Regelungen zurückzuführen. "Der Haftverlängerungsantrag ist dem Ausländer so rechtzeitig mitzuteilen, dass er sich auf den Anhörungstermin vorbereiten kann", heißt es in den Richtlinien. "Ich habe in diesem Jahr noch keinen Gefangenen kennen gelernt, bei dem dieses eingehalten wurde", beschrieb Frank Gockel bei dem Fachgespräch 2004 seine Erfahrungen. Als Beweis präsentierte er ein Dokument, in dem ein Häftling über seine Anhörung am 27. August informiert wurde. Ausgehändigt wurde ihm das Schreiben am 2. September.
Das Innenministerium nimmt es nach Angaben seiner Sprecherin Dagmar Pelzer gelassen, dass das Protokoll der Dienstbesprechung jetzt im Internet steht. "Auch wenn es unschön ist, wenn Protokolle aus internen Besprechungen gezielt an die Öffentlichkeit getragen werden", fügt sie hinzu. Das Dienstgespräch sei auch nicht aufgrund der im November erhobenen Vorwürfe anberaumt worden, es gebe solche Gespräche mehrmals im Jahr. "Es gibt immer wieder Gesprächsbedarf", sagt Pelzer. Handlungsbedarf sieht sie keinen, die üblichen Stichproben der Bezirksregierungen würden ausreichen um die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben zu gewährleisten.
Dass das Ministerium trotz der Vorwürfe keinen Anlass für Konsequenzen sieht, verwundert nicht. "Wir haben den Eindruck, dass es sich um Einzelfälle handelt, bei denen auch nicht gegen das Recht verstoßen wurde, vielmehr traten da Fragen auf", erklärt Dagmar Pelzer. Frank Gockel sieht das anders. "Ich bin mir sicher, dass ich bei achtzig bis neunzig Prozent der Haftverlängerungsanträge Formfehler finde", widerspricht er energisch der Einzelfallthese. Er nennt es einen Skandal, dass sich die Ausländerbehörden "systematisch" nicht an die Richtlinien gehalten hätten und "regelmäßig gegen die gesetzlichen Vorgaben und gegen die geltende Rechtsprechung verstoßen" worden sei.
Alle zitierten Dokumente sind unter http://www.gegenabschiebehaft.de einzusehen.
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