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26.12.2024 :
Pressespiegel überregional
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Übersicht:
RedaktionsNetzwerk Deutschland, 26.12.2024:
"Auschwitzhäftling Nr. 2" / Der Kleinkriminelle Otto Küsel, der in der KZ-Hölle zum Helden wurde
t-online.de, 26.12.2024:
Europaweiter Skandal / Propaganda-Show legt AfD-Kontakte nach Russland offen
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RedaktionsNetzwerk Deutschland, 26.12.2024:
"Auschwitzhäftling Nr. 2" / Der Kleinkriminelle Otto Küsel, der in der KZ-Hölle zum Helden wurde
26.12.2024 - 00.00 Uhr
Wann wird ein "einfacher Mensch" zum Helden? Wenn er angesichts des größten Grauens um ihn herum menschlich handelt - eben wie jener Otto Küsel, dem die Nazis als "Berufsverbrecher" in Auschwitz eigentlich einen privilegierten Häftlingsstatus zugedacht haben. Die Biografie eines Vergessenen.
Harald Stutte
Diesem Mann hat Hollywood kein filmisches Denkmal gesetzt, er wird in Israel nicht als "Gerechter unter den Völkern" geehrt, keine Straße trägt seinen Namen. Verdient hätte es Otto Küsel, ein im Berlin der Kaiserzeit geborener Kleinkrimineller, dennoch, im gleichen Atemzug mit dem Industriellen Oskar Schindler oder dem Diplomaten Raoul Wallenberg genannt zu werden.
Denn der "Auschwitzhäftling Nr. 2", wie ein Buch des Journalisten Sebastian Christ titelt, hat Hunderten von Leidensgenossen in der NS‑Mordfabrik das Leben gerettet. Nach dem altruistischen Prinzip "Tue Gutes und rede nicht darüber". Doch der Reihe nach …
Das Berlin der 20er-Jahre, in Filmen als quirliges "Babylon" verklärt, war in Wahrheit ein Haifischbecken, in dem vor allem über die Runden kam, wer im Graubereich am Rande der Legalität wilderte. Niemand hat das plastischer geschildert als Alfred Döblin in seinem vielfach verfilmten Roman "Berlin Alexanderplatz". Einer dieser Überlebenskünstler, der bei Döblin Franz Biberkopf heißt, war im wahren Leben eben jener 1909 im späteren Bezirk Neukölln geborene Otto Küsel.
Straßenhändler mit kleinem Bauchladen
"Als junger Mann geriet er mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt, wahrscheinlich wegen Diebstahls- und Einbruchsdelikten", heißt es im Buch von Christ. Tatsache ist aber auch, dass die politisch instabile und wirtschaftlich von irren Reparationszahlungen gebeutelte Weimarer Republik den Menschen kaum Perspektiven bot - vor allem aber kaum Jobs. Küsel hielt sich als Straßenhändler mit kleinem Bauchladen über Wasser, verkaufte Schnürsenkel, gelegentlich auch Obst mit so sinnstiftenden Sprüchen wie "Bananen, Bananen, für die Damen ohne Herren". Er genoss es, unabhängig zu sein, seinen Arbeitstag selbst zu bestimmen.
"Eigentlich lief das alles mehr auf Betteln als auf Hausieren hinaus - man durfte sich von der Polizei nie erwischen lassen", so Küsel in seinem einzigen Interview, das er Anfang der 80er‑Jahre einer evangelischen Studentengemeinde gab und aus dem auch Christ im Buch zitiert.
Mit Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde es fast unmöglich, mit legalen Jobs zu überleben. Küsel verbrachte die Zeit bis 1935 wohl überwiegend hinter Gittern. Vermutlich, denn seine Polizeiakte verbrannte in den Berliner Bombennächten. Für die ab 1933 regierenden Nationalsozialisten galt er damit als "Berufsverbrecher", eine juristische Kategorisierung, die die Nazis übernommen, aber durch Einführung des so genannten Gewohnheitsverbrechergesetzes verschärften, um Betroffene mit unbefristeter Sicherungsverwahrung aus dem Straßenbild zu entfernten.
"Ihr könnt mich alle mal"
Wie sehr Küsels Lebensentwurf mit der NS‑Ideologie kollidierte, verdeutlicht eine von ihm im obigen Interview geschilderte Episode, in der es um die Meldeauflagen geht, denen der Haftentlassene auf einer Berliner Polizeiwache nachkommen wollte. "Ich ging hinein und sagte "Guten Tag!". Da sagte der "Gehn’se noch mal raus!". Ich dachte, der hat noch zu tun und ging hinaus. Nach ein paar Minuten ging ich wieder hinein und sagte "Guten Tag"‘. Das sagte der "Gehn’se noch mal raus!". Da dachte ich, der hat noch zu tun und ging wieder hinaus. Und als ich zum dritten Mal hinein kam und "Guten Tag‘"sagte, meinte er: "Wissen‘se denn nicht, dass das Heil Hitler heißt? Gehen Sie noch einmal hinaus!" Ich bin also wieder herausgegangen, aber dann bin ich weggegangen und habe gedacht, "ihr könnt mich alle mal"."
Küsel verweigerte sich dem System - doch das gönnte ihm keine Ruhe. Im Februar März 1937 erreichte ihn eine Vorladung zur Geheimen Staatspolizei: Sein Besuch dort endete mit der Verhaftung, Auftakt zu einer achtjährigen Leidenszeit, zunächst im Konzentrationslager Sachsenhausen. Das war wohl Teil einer gezielten Verfolgung, mit der der NS‑Staat eine Bevölkerungsgruppe von geschätzt 80.000 Menschen, denunziert als "Asoziale" und "Berufsverbrecher", aus der "Volksgemeinschaft" ausschließen wollte.
"Bei den Begriffen "Asoziale" und "Berufsverbrecher" handelt es sich um Angehörige sozialer Randgruppen", so die Historikerin Julia Hörath von der Freien Universität Berlin gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). "Mit der Verfolgung dieser beiden Gruppen griffen die Nationalsozialisten gesellschaftliche Stereotype und Feindbilder auf, knüpften an bereits vorhandene Repressionsmaßnahmen an, die sie im Verlaufe der NS‑Herrschaft immer stärker radikalisierten", so Hörath, die als Teil des Initiativ-Beirats an der Wanderausstellung "Die Verleugneten" mitgewirkt hat, die zur Zeit im B.Place (Cora-Berliner-Straße 2) in Berlin zu sehen ist und die sich eben diesen NS‑Opfern widmet.
Zurück zu Otto Küsel: Als "Volksdeutsche" und "Arier", zudem anders als Kommunisten oder Sozialdemokraten ideologisch nicht vorbelastet, hatten "Berufsverbrecher" in der auf hierarchische Selbstverwaltung fußenden KZ‑Systematik eine wichtige Funktion. Sie waren für die privilegierten Stellen der Funktionshäftlinge vorgesehen, auch Kapos genannt. Diese Kapos waren unter Mithäftlingen gefürchtet, weil sie ihre Machtstellung oft missbrauchten. In der Realität kam aber nur ein Bruchteil der schätzungsweise 60.000 Häftlinge, gekennzeichnet mit grünem Dreieck, in eine Kapo-Funktion.
In der SS-Logik zu Mittätern auserkoren
Zu einem dieser Opfer, die von der SS dazu auserkoren waren, situativ auch Mittäter zu werden, wurde Otto Küsel in eben jenem Konzentrationslager Sachsenhausen. "In den Konzentrationslagern etablierten die KZ‑SS mittels des "Winkelsystems" eine an rassischen Kriterien orientierte Hierarchie unter den Häftlingen, die aber wiederum an bestehende gesellschaftliche Vorurteile anknüpfte", so die Historikerin Hörath, wobei die Häftlingsgruppen bewusst gegeneinander ausgespielt wurden, um nach dem Prinzip "divide et impera", also "teile und herrsche", eine Solidarisierung der Häftlinge untereinander zu hintertreiben. ""Asoziale" und "Berufsverbrecher" beziehungsweise "Berufsverbrecherinnen" wurden mit dem grünen und dem schwarzen Winkel gekennzeichnet", erläutert Julia Hörath.
In Sachsenhausen begann Ende der 30er Jahre auch die schaurige Karriere eines gewissen Rudolf Höss, zunächst als Adjutant des Lagerkommandanten, später als Schutzhaftlagerführer. Seine Skrupellosigkeit qualifizierte ihn offenbar ab Mai 1940 für den Posten des Kommandanten im neu eröffneten Konzentrationslagers Auschwitz.
Mit Höss fast zeitgleich am 20. Mai 1940 erreichten auch Otto Küsel als einer von 30 Kapos aus Sachsenhausen kommend Auschwitz. Küsel wurde Auschwitz-Häftling Nummer 2. Und wie schon in Sachsenhausen war er dort für den Arbeitsdienst verantwortlich, stellte also im Hauptlager Auschwitz Arbeitskommandos zusammen. 90 Prozent der Häftlinge waren zu diesem Zeitpunkt Polen. Schon in Sachsenhausen hatte Küsel bemerkt, dass es offenbar Ziel der Nazis war, die polnische Elite zu vernichten.
System "Vernichtung durch Arbeit"
Küsels Auftrag war es, am System "Vernichtung durch Arbeit" mitzuwirken. Doch Küsel entfaltete in seinem Verantwortungsbereich eine unglaubliche Energie gepaart mit einer bemerkenswerten Kreativität, dieses System zu blockieren. So delegierte der 32-Jährige schwächere Häftlinge in Kommandos, in denen es leichtere Arbeiten gab und wo sich Essen organisieren ließ - in der Küche oder Kantine zum Beispiel. Kräftigere Häftlinge steckte er in Außenkommandos, versprach ihnen aber, sie in ein einfacheres Kommando zu holen, falls ihre Kräfte nachließen.
Neuankömmlingen warnte er, sich nicht als Akademiker oder Offiziere zu erkennen geben, denn das käme einem Todesurteil gleich. Er sprach Häftlingen Trost zu, baute sie psychologisch auf. Küsels Schreibstube wurde zur wichtigsten Anlaufstelle des polnischen Widerstands. Fluchtwillige wurden Kommandos zugeteilt, in denen sie besser abhauen konnten. Im Museum des Lagers gibt es Hunderte Berichte geben, in denen Küsel positiv erwähnt wird.
Er bildete damit unter den ersten 30 Kapo-Mithäftlingen, in der Lagerhierarchie gleich unter den Wachmannschaften angesiedelt, eine von ganz wenigen Ausnahmen. Besonders berüchtigt war Bruno Brodniewicz, Häftling Nummer 1. "Brodniewicz war eine Bestie. Er war ein König im Lager", genannt auch "der schwarze Tod" (Czarna śmierć), sagte der Ex-Häftling Willy Brachmann 1960 im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess aus. Nach der Befreiung wurde er mutmaßlich von Mithäftlingen gelyncht.
Obwohl er sich anders verhielt, akzeptierten die Kapos Küsel als einen der ihren. Während Küsel laut Christ für seine Kameraden nur Verachtung übrig hatte. Weil er die Ungeheuerlichkeit des Grauens, das von den NS-Tätern und ihren willfährigen Handlangern ausging, sehr früh erkannte und offenbar nie daran zweifelte, dass all das eines Tages aufgearbeitet werden würde. Mithäftling Boleslaw Grzcyb erinnerte sich, dass Küsel eines Tages in der Häftlingsschreibstube, als er durch das Fenster Rapportführer Palitzsch eintreten sah, im fließenden Polnisch zu seinem Mithäftling sagte: "Schau und erinnere dich an das Gesicht des Verbrechers."
Küsel gelingt die Flucht - bis sie ihn kriegen
Ende 1942 gelang Küsel zusammen mit drei polnischen Häftlingen sogar die Flucht aus Auschwitz. In Warschau schloss er sich einer Widerstandsgruppe an, ging im September 1943 jedoch seinen Häschern ins Netz. Er wurde gefoltert, in Arrest gesteckt - und überlebte offensichtlich nur, weil ihm der Zufall zu Hilfe kam: Lagerkommandant Höss wurde just in dieser Zeit durch Arthur Liebehenschel ersetzt, der anlässlich seiner Ernennung eine Amnestie für alle Bunker-Insassen erwirkte.
Die Leidenszeit endete für Küsel, der im November 1944 ins bayerische KZ Flossenbürg verlegte worden war, im April 1945 in der Oberpfalz. Dort, unweit des Lagers, fand er eine neue Heimat. Er heiratete noch Ende 1945 eine Frau aus der Region, fing in der Landwirtschaft zu arbeiten an.
Das Paar bekam zwei Töchter, er arbeitete als Verkaufsfahrer für einen Obst- und Gemüsegroßhändler. Als einer von 211 Auschwitz-Überlebenden sagt er 1964 im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess aus, davon sind Tonbandaufnahmen erhalten. Geradezu verstörend wirkt dabei aus heutiger Sicht, wie hart der ehemalige Häftling befragt wurde, wie das Gericht versuchte, ihn als verlängerten Arm oder gar Spitzel der Lagerleitung zu verleumden. Küsel seinerseits, dem kein Zeuge je ein Fehlverhalten nachgesagt hat, unterlag offenbar nie der Versuchung, die eigene Rolle als "Engel von Auschwitz" angemessen darzustellen.
Wenig überraschend für Julia Hörath, denn nur in wenigen Ausnahmefällen hätten als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgte über ihre Erfahrungen in der NS-Zeit berichtet, wofür die Historikerin mehrere Gründe verantwortlich waren: "Viele schämten sich für ihre Verfolgung. Und auch in den Familien war sie in der Regel tabuisiert. Hinzu kam, dass die als "Asozialen" und "Berufsverbrecher" Verfolgten zumeist den bildungsfernen Schichten entstammten, was dazu führte, dass sie - im Gegensatz zu Angehörigen anderer Häftlingsgruppen - nicht über ihre Verfolgung schrieben", so die Historikerin.
Rehabilitierung lange Zeit verwehrt
In der Bundesrepublik wurden diesen Menschen eine Rehabilitierung lange Zeit verwehrt. Hörath: "Es dauerte bis spät in die 1980er Jahre hinein, bis sich die Forschung dem Verfolgungschicksal dieser beiden Gruppen annahm." In der bundesdeutschen "Erinnerungskultur" befasste sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit den "Verleugneten". Auf der anderen Seite wurden einzelne Versuche von Betroffenen, "sich in den Lagergemeinschaften zu engagieren, von den Überlebenden der anderen Häftlingsgruppen gezielt unterbunden", ergänzt die Historikerin. Erst 2020 beschloss der Bundestag, so genannte "Asoziale und Berufsverbrecher" als NS-Opfer anzuerkennen
Noch schlimmer in der DDR, wo mit dem § 249 des Strafgesetzbuches ("Assozialenparagraph") diese diffuse NS-Rechtsprechung "gewollt oder ungewollt", wie der Jurist Sven Korzilius in seiner Dissertation darlegt, überwiegend übernommen wurde ("Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten"). Otto Küsel taugte offenbar nicht zur Lichtgestalt - und versuchte gar nicht erst, sich als solche zu präsentieren.
Dass 80 Jahre lang Geschichten wie jene von Otto Küsel übersehen wurden - für den Historiker Stefan Hördler ist das keine Überraschung. "Welche Biographien von Opfern sind einer breiteren Öffentlichkeit denn wirklich bekannt?", fragt Hördler vom Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen. Und gibt selbst die Antwort: "Es sind oft jene von Persönlichkeiten Fritz Bauer, der aber nicht durch seine Leidenszeit Bekanntheit erlangte, sondern in seiner Rolle als Generalstaatsanwalt in Hessen, dessen Wirken maßgeblich die Frankfurter Auschwitz-Prozesse ab 1963 zu verdanken sind", so Hördler zum RND.
"Ehemalige NS-Verfolgte rückten nach 1945 vor allem dann ins Bewusstsein, wenn sie öffentlich sichtbar wurden. Oder sie wurden wie in der DDR politisch glorifiziert, weil sie als Antifaschisten in die staatspolitische Doktrin passten", so Hördler, der sich als historischer Sachverständiger in diversen Verfahren zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen verdient gemacht hat. "Die vielen Schicksale und Geschichten jener, die nicht überlebt hatten, schafften es häufig nicht in die kollektive Erinnerung", erklärt Hördler.
Weitgehend vergessen starb er 1984
Otto Küsel, gefeiert als der "Engel der Polen", starb 1984 weitgehend vergessen in der Oberpfalz. Nur jene, die er gerettet hatte, hielten bis zum Ende Kontakt zu ihm. Und weil es überwiegend Polen waren, wurde er im Nachkriegspolen als Held verehrt, dem sogar ehrenhalber die polnische Staatsbürgerschaft verliehen wurde. "Otto Küsel war ein einfacher Mann, der im entscheidenden Moment das richtige getan hat", so der Buchautor Sebastian Christ in einem Podcast auf Radio 3.
Bildunterschrift: Symbol des Grauens: der Ankunftsbereich des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau heute.
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t-online.de, 26.12.2024:
Europaweiter Skandal / Propaganda-Show legt AfD-Kontakte nach Russland offen
26.12.2024 - 14.18 Uhr
Von Jonas Mueller-Töwe
Protagonisten des "Voice of Europe"-Skandals machen eine Propaganda-Show in Belarus. Die Gästeliste ist kurios: russische Agenten, skandalträchtige Politiker - und immer wieder AfD-Abgeordnete.
Oleg Woloschin ist ein Talkshow-Gast mit einer so bewegten Vita, wie sie sich eine Moderatorin für eine interessante politische Sendung nur wünschen kann. Er ist ein langjähriger Vertrauter und Lobbyist des Putin-treuen Oligarchen Wiktor Medwedtschuk. In der Ukraine sind beide des Hochverrats verdächtig. Und mit seiner Arbeit für Medwedtschuk hat er sich auch über die Landesgrenzen hinaus Ärger eingehandelt.
Die USA halten Woloschin für eine Schachfigur des russischen Geheimdienstes FSB. Er habe vor Russlands Angriff das Land destabilisieren und eine Marionettenregierung vorbereiten sollen - Medwedtschuk war gerüchteweise als neuer Präsident vorgesehen. In der Europäischen Union ist Woloschin wegen der Lobbyarbeit in einen Spionage-Skandal und eine Schmiergeldaffäre verstrickt, welche die AfD erfasst hat.
Es gäbe also viele Dinge mit einem solchen Gast vor laufender Kamera zu besprechen. Immerhin sollen er und seine Ehefrau Nadia Sass die Kontakte zu den europäischen Politikern angebahnt haben, die anschließend über Medwedtschuks Internetportal "Voice of Europe" mit Geld bestochen worden sein sollen. Dazu nutzten sie wohl unter anderem ihre Positionen bei Medwedtschuks Medienprojekten.
Umso überraschender ist, dass Woloschin tatsächlich regelmäßig zu Gast in einem TV-Studio ist - im diktatorisch regierten Belarus, wo er und seine Frau Sass Schutz vor der Strafverfolgung gesucht haben. Weniger überraschend ist aber, wie die Dauerpräsenz im Staatsfernsehen zustande kommt: Sass ist selbst Moderatorin der wöchentlichen Propaganda-Show, die kaum von ihren russischen Vorbildern zu unterscheiden ist.
Dort begrüßt sie per Videoschalte nicht nur regelmäßig politische Mitstreiter von Medwedtschuk aus Russland und der Ukraine, sondern auch zahlreiche europäische Politiker, die in Reichweite seines Netzwerks gekommen sind - darunter AfD-Abgeordnete und auch viele, die bei "Voice of Europe" auftraten. Die Gästeliste mutet deswegen kurios an.
Eine Auswertung von t-online zeigt, dass sich in der Propaganda-Schau der Medwedtschuk-Vertrauten erstaunlich viele Affären treffen, die europäische Sicherheitskreise alarmiert haben. Besonders stechen die Verbindungen zu "Voice of Europe" hervor.
Waldemar Herdt
Neben Woloschin und Sass nicht aus dem Programm wegzudenken ist der ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Waldemar Herdt, der Medwedtschuk Anfang 2021 mit seinen Parteifreunden Maximilian Krah und Petr Bystron im Bundestag begrüßte. Seit Sass Mitte September 2022 auf Sendung gegangen ist, hat er die Show 19 Mal bereichert, so oft wie kaum jemand.
Bereits in der zweiten Ausgabe tauchte er auf - gemeinsam mit dem ehemaligen AfD-Bundestagsabgeordneten Robby Schlund, der einst die Russland-Politik der AfD-Fraktion verantwortete und mit Medwedtschuk einen Kranz in Berlin niederlegte. Beide sind mittlerweile nicht mehr in der Partei. Herdt hat seit seinem Austritt Anfang 2024 die Arbeit für den russischen Staat aber noch intensiviert, wie t-online berichtete.
Maximilian Krah
Sehr früh war auch der AfD-Europa-Abgeordnete Maximilian Krah zu Gast bei Woloschins Ehefrau. Bereits im Dezember 2022 debattierte er live im EU-Parlament in Straßburg mit Sass und weiteren Abgeordneten. Mit dabei: Tatjana Zdanoka, gegen die mittlerweile in Lettland wegen jahrzehntelanger mutmaßlicher Spionage für Russland ermittelt wird.
Ein heikler Auftritt: Krah und sein Büro in Brüssel sind seit seinem ersten Tag im Europa-Parlament 2019 tief in die Spionage- und Schmiergeldaffäre um Medwedtschuk und "Voice of Europe" verstrickt. Er traf den Oligarchen mindestens dreimal persönlich. Noch vor wenigen Wochen besuchte er Woloschin und Sass bei einem heimlichen Trip nach Russland, wie t-online exklusiv berichtete.
Doppelt heikel ist sein damaliger Talkshow-Auftritt im Dezember 2022 aber, weil "Voice of Europe" ein Dreivierteljahr danach ein nahezu identisches Sendeformat ebenfalls mit Krah live aus Straßburg sendete. Ausschnitte daraus verwendete wiederum Sass immer wieder.
Zu seinem Auftritt in der Sass-Sendung im Dezember 2022 sagte Krah t-online: "Da war die Sendung recht neu, sie musste Kiew kurz zuvor verlassen und brauchte einen Neustart. Aus freundschaftlichen Gründen habe ich zugesagt." Die weiteren Videos von ihm, die Sass in den Folgemonaten verwendete, habe er nicht eingeschickt und auch keine weiteren Interviews gegeben. Das gelte auch für eine Videokonferenz in einem Beitrag zu Medwedtschuk einige Wochen später.
Ulrich Singer und Rainer Rothfuß
Relativ neu im Repertoire der Sendung sind der AfD-Bundestagsabgeordnete Rainer Rothfuß und der bayrische AfD-Landtagsabgeordnete Ulrich Singer, die ihr Debüt per Videoschalte jeweils in diesem Jahr bestritten. Rothfuß absolvierte am 17. November seinen dritten Auftritt - da war er gerade erst von der gemeinsamen Russland-Reise mit Krah zurück, die Sass und Woloschin ihm und Singer vermittelt hatten.
Auf dem Trip durften sie Dmitri Medwedew treffen, den Vorsitzenden von Putins Regierungspartei Einiges Russland. Singer war bereits zuvor oft in Russland gewesen, hat dort ein Haus - und kennt Woloschin seit Jahren persönlich. 2021 besuchte er auf seine Initiative hin gemeinsam mit Krah und Petr Bystron Medwedtschuk in der Ukraine.
Die "Voice of Europe"-Partner
Bemerkenswert ist, dass fast die Hälfte aller Politiker, die bei "Voice of Europe" als Interviewpartner auftauchten, auch in der Sass-Sendung zu Gast waren - viele von ihnen sogar, nachdem das "Voice of Europe"-Konstrukt Ende März aufflog und von der EU sanktioniert wurde. Neben Maximilian Krah sind das unter anderem:
Henri Malosse, ein französischer Lobbyist, der immer wieder im Dunstkreis Medwedtschuks auftaucht. Hofierte auch Sass und Woloschin über seinen Thinktank.
Marcel de Graaf, ein niederländischer EU-Abgeordneter des rechtsradikalen Forum voor Democratie. Übernahm Krahs langjährigen Assistenten Guillaume Pradoura, der Medwedtschuks PR-Tour in Europa mitorganisierte und für "Voice of Europe" warb. Deswegen durchsuchten Behörden auch sein Büro.
Matteo Gazzini, ein italienischer EU-Abgeordneter von Forza Italia.
Dragan Stanojevic, ein serbischer Politiker der rechtspopulistischen MI–GIN. Gründete einen Ableger von Medwedtschuks Bewegung "Eine andere Ukraine" in Serbien. Unterliegt einem Einreiseverbot in der Ukraine.
Hervé Juvin, französischer EU-Abgeordneter des rechtsradikalen Rassemblement National. Wurde auf Grund so genannter Wahlbeobachtungsmissionen mit luxuriösen Hotelaufenthalten vom Parlament für weitere Auslandsmissionen gesperrt.
Milan Uhrìk, slowakischer EU-Abgeordneter der rechtsextremen Hnutie Republika. Gilt als Verbreiter pro-russischer Desinformation. Unterhält laut "VSquare" Kontakte zu einem mutmaßlichen russischen Spion in der EU-Vertretung in Brüssel.
Mutmaßliche Spione und Agenten
Auch zu den Gästen zählen immer wieder solche, die in den Ruch geraten sind, für russische Nachrichtendienste zu arbeiten - das gilt nicht nur für die bereits erwähnte lettische Politikerin Tatjana Zdanoka. Auch einer ihrer alten Bekannten, der Pole Matteusz Piskorski, legte einen Auftritt per Videoschalte hin.
Er ist in Polen wegen mutmaßlicher Spionage für Russland und China angeklagt und in Deutschland wegen seiner Nähe zu AfD und Die Linke bekannt - genauso wie sein Wegbegleiter Janusz Niedzwiecki, der ebenfalls wegen Spionage angeklagt ist. Er war über Krahs Büro für das Europa-Parlament akkreditiert. Ihr deutscher Partner Manuel Ochsenreiter floh vor Strafverfolgung nach Moskau, weil er einen Anschlag in der Ukraine in Auftrag gegeben haben soll. Dort starb er später.
Die drei lotsten über Jahre europäische Politiker vom rechten und linken Rand des politischen Spektrums für politische Operationen in russische Einflusszonen. Zum Beispiel: den italienischen Regional-Politiker Stefano Valdegemberi, der laut "OCCRP" Geld aus ihrem Netzwerk erhalten haben soll und anschließend einen Antrag in Venetien einbrachte, der die Krim als russisch anerkannte. Auch Valdegemberi trat vor wenigen Wochen bei Sass auf. Kuriosester Dauergast der Sendung ist aber wahrscheinlich Andreii Telizhenko.
In Deutschland weitgehend unbekannt, war er einer der aktivsten Treiber der russischen Desinformationskampagne gegen Joe Biden, die von Medwedtschuks Sendern in der Ukraine befeuert wurde, und dabei ein enger Partner von Trumps Anwalt Rudy Giuliani. "Time" berichtete, er habe für Medwedtschuk Kontakt zu US-Republikanern herstellen sollen. Einer seiner Mitstreiter gilt den US-Behörden als russischer Agent und steht unter Sanktionen, ein weiterer wurde wegen Falschaussage angeklagt. Er selbst hat laut CNN auf Grund der Affäre sein US-Visum verloren.
Die Liste der Talkshow-Gäste ist also lang und prominent. Während "Voice of Europe" von den Behörden der Stecker gezogen wurde, sendet das Medwedtschuk-Team aus Belarus völlig ungestört weiter. Über YouTube ist das Format weltweit abrufbar.
Bildunterschrift: Der AfD-Abgeordnete Maximilian Krah: Ausschnitt aus einer Sass-Sendung im April 2023.
Bildunterschrift: Dauergast Waldemar Herdt: Seit Sendebeginn im Herbst 2022 ist er regelmäßig zugeschaltet.
Bildunterschrift: Dezember 2022: Live aus dem EU-Parlament in Straßburg sendete Sass mit Krah (r.) und Zdanoka.
Bildunterschrift: Eingespielt durch Sass und Woloschin: Die Talk-Gäste Singer und Rothfuß durften Medwedew treffen.
Bildunterschrift: Alle traten bei "Voice of Europe" in Erscheinung: Bei Sass sind sie mehrheitlich weiter zu Gast.
Bildunterschrift: Verstrickt in Geheimdienst-Affären: Matteusz Piskorski.
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