3 Artikel ,
20.11.2024 :
Pressespiegel überregional
_______________________________________________
Übersicht:
Norddeutscher Rundfunk, 20.11.2024:
Süleyman Taşköprü: Wer war das Hamburger Opfer des NSU?
MiGAZIN, 20.11.2024:
Rechtsterror / Ruhr-Uni Bochum soll Hamburger NSU-Mord aufarbeiten
Kontext: Wochenzeitung Online, 20.11.2024:
Buch "`Reichsbürger` im Südwesten" / Die Radikalisierung des Ingo K.
_______________________________________________
Norddeutscher Rundfunk, 20.11.2024:
Süleyman Taşköprü: Wer war das Hamburger Opfer des NSU?
20.11.2024 - 12.00 Uhr
Süleyman Taşköprü lebte als Familienvater in Hamburg-Altona und träumte von schnellen Autos. Im Sommer 2001 wird er vom NSU ermordet. Ein Freund der Familie erinnert sich 2014.
Von Kristian Festring-Hashem Zadeh
Ein schlaksiger Junge betritt Anfang der 1980er-Jahre an der Seite seines Vaters den Friseursalon von Behçet Algan in Hamburg-Altona. "Ein fröhliches, aufgeschlossenes Kind mit äußerst dichtem, schwarzem Haar", beschreibt Algan seinen ersten Eindruck von Süleyman Taşköprü in einem Gespräch mit dem NDR 2014. Er sieht ihn aufwachsen, zur Schule gehen, Vater werden. Am 27. Juni 2001 stirbt der türkischstämmige Taşköprü in seinem Lebensmittelladen - erschossen von den rechtsextremistischen Terroristen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU). Der Mord an dem damals 31-Jährigen hat nicht nur die Angehörigen traumatisiert, sondern auch das Viertel.
"Er traf sich hier oft mit Freunden"
Friseurmeister Algan sagt 2014, er sei ein "guter Freund der Familie". In seinem Geschäft an der Bahrenfelder Straße gehen die Altonaer seit etlichen Jahren ein und aus - nicht nur, um sich die Haare schneiden oder barbieren zu lassen. Der Laden ist Treffpunkt für Klönschnack und politische Diskussionen auf Türkisch und Deutsch. Im hinteren Teil des Salons flimmert ein Fernseher, im vorderen ist eine rote, gepolsterte Sitzecke eingerichtet. Ein Samowar hält Tee bereit.
"Süleyman kam gern auf ein Glas vorbei, oft traf er sich hier mit Freunden", erzählt Algan, der die Familie Taşköprü "schon ewig" kennt. Der junge Mann habe in den ausliegenden Zeitungen geschmökert, mit ihm gescherzt und über die Istanbuler Fußballvereine diskutiert. "Er war für Fenerbahçe, ich für Galatasaray."
Auf die Frage, was für ein Mensch der Ermordete gewesen sei, zieht Algan einen Zettel hervor, den ihm dessen Vater Ali gegeben habe. In großen, ungelenken Buchstaben steht in schwarzer Kugelschreiber-Tinte ein Abriss von Süleyman Taşköprüs Biografie.
Trauer und Misstrauen gegen die Medien sitzen tief
Mehr wolle die Familie den Medien nicht preisgeben, sagt Algan 2014. Zu tief sitzt noch immer die Trauer - und das Misstrauen. Nach Taşköprüs Ermordung hatten viele Journalisten die falsche Spur der Ermittler ungeprüft übernommen und das Verbrechen unter dem abwertenden Schlagwort "Döner-Morde" in einem Kontext türkischer Mafia-Kämpfe angesiedelt.
"Nach der Grundschule kam Süleyman aus der Türkei nach Hamburg", übersetzt der Friseurmeister den Text in seinen Händen. Die Eltern waren schon zuvor aus dem westanatolischen Afyon in die Hansestadt migriert.
"Süleyman war sehr intelligent." Der Direktor seiner Schule in der Türkei habe sie angerufen und gefragt, ob sie den Jungen nicht zurückschicken wollten, damit er dort weiterlerne. Doch der Heranwachsende weigerte sich. Lieber blieb er bei seinen Eltern und den drei Geschwistern und lernte Deutsch. Er ging in Altona zur Schule, später auf die Höhere Handelsschule und wurde Lebensmittelhändler. "Er war ein ganz, ganz lieber Mensch", wirft eine Angestellte des Friseursalons im Vorübergehen ein. "Wir haben als Jugendliche oft zusammen gechillt."
"Mord hat das Leben dieser Familie zerstört"
Mit 28 Jahren wurde Taşköprü Vater einer Tochter. Drei Jahre später war er tot. "Mit Süleyman ist nicht nur unser Sohn gestorben, sondern auch seine Mama und sein Papa", schließt Algan die Übersetzung, steckt den Zettel in eine Klarsichtfolie und fügt hinzu: "Der Mord hat das Leben dieser Familie zerstört."
Neben der Trauer um den Sohn habe vor allem das Verhalten vieler Nachbarn und Freunde die Taşköprüs bitter enttäuscht. "Erst waren alle geschockt - und als dann in den Zeitungen von Schwarzgeld und Mafia zu lesen war, haben sich die meisten von der Familie abgewendet." Es wurde gemutmaßt und gemunkelt. Sich selbst nimmt Algan nicht aus. "Wir haben alle Fehler gemacht", bereut er die vorschnelle Verurteilung des Toten und dessen Familie. Allerdings seien ihm später doch Zweifel an der Darstellung in den Medien gekommen.
"Er hatte nie viel Geld und träumte von schnellen Autos"
"Süleyman hatte nie viel Geld", sagt Algan 2014. "Er träumte von schnellen Autos und einem Ferienhaus in der Türkei." Rückblickend erinnerte sich Algan, dass Taşköprü einmal zum Haareschneiden gekommen sei und anschreiben ließ. Zwei Tage später habe er dann "ganz korrekt" bezahlt. "Als mir das einfiel, habe ich mich gefragt: Wenn er wirklich so viel Schwarzgeld besessen haben soll, warum reichte es nicht für einen Haarschnitt?"
Anders als viele weitere Mitglieder der Türkischen Gemeinde in Altona habe er den Kontakt zu Familie Taşköprü nicht abreißen lassen, sagt er. Und auch wenn deren Ruf wiederhergestellt sei: Am gesellschaftlichen Leben nähmen die Eltern nicht mehr teil. "Nur manchmal kommt der Vater in die Moschee oder trifft sich mit einigen zum Kartenspielen."
Taşköprüs Tochter kommt in den Salon
Umso mehr freut es Algan 2014, dass Süleyman Taşköprüs Tochter seit einigen Jahren regelmäßig auf einen Tee in seinen Salon kommt. "Sie ist jetzt ein Teenager und fragt natürlich, wie das alles damals gewesen ist", sagt er dem NDR damals. Auch sie sei ein aufgewecktes Mädchen, das gern rede.
Nicht nur ihr zuliebe sieht er sich und die anderen Bewohner des Stadtteils in der Pflicht, weiterhin an den Mord an Taşköprü zu erinnern. "Wir haben alle daraus gelernt", sagt er.
"Tasköprüstraße" erinnert an Hamburger NSU-Opfer
Die Erinnerung ist nicht nur auf einem Mahnmal in Bahrenfeld in Stein gemeißelt, sondern nun auch als Straßenschild sichtbar. Ein 300 Meter langes Teilstück der Bahrenfelder Kohlentwiete ist in "Tasköprüstraße" umbenannt worden.
Behçet Algan und viele andere Altonaer werden weiter an Süleyman denken, den fröhlichen Fenerbahçe-Fan aus ihrer Mitte. Sie werden an seinen gewaltsamen Tod denken, an das Leiden seiner Familie, an die Fehler der Ermittler - und die vorschnelle Verurteilung durch die Medien und das Viertel.
NSU-Mord soll wissenschaftlich aufgearbeitet werden
2024 wird bekannt, dass der NSU-Mord in Hamburg wissenschaftlich aufgearbeitet werden soll. Forscherinnen und Forscher von der Ruhr-Universität Bochum sollen dafür Zugriff auf verschiedene Archive bekommen - darunter auch die des Landesamtes für Verfassungsschutz.
_______________________________________________
MiGAZIN, 20.11.2024:
Rechtsterror / Ruhr-Uni Bochum soll Hamburger NSU-Mord aufarbeiten
20.11.2024 - 16.03 Uhr
2001 wird in Hamburg der türkischstämmige Kleinunternehmer Süleyman Taşköprü ermordet. Jahre vergehen, bevor klar wird, dass er Opfer der rechten Terror-Gruppe NSU wurde. Parlamentarisch wird der Fall nie untersucht, jetzt soll er wissenschaftlich aufgearbeitet werden.
Die Ruhr-Universität Bochum soll die Geschehnisse und Ermittlungen rund um den Mord an dem Hamburger NSU-Opfer Süleyman Taşköprü wissenschaftlich aufarbeiten. Der von der Hamburgischen Bürgerschaft eingesetzte Beirat "Wissenschaftliche Aufarbeitung des NSU-Komplexes" habe sich bei der Vergabe des Auftrags für das Studien-Konzept der nordrhein-westfälischen Uni entschieden, teilte Bürgerschaftspräsidentin und Beiratsvorsitzende Carola Veit mit. Zur Umsetzung des Auftrags soll der Senat 900.000 Euro bereitstellen.
Taşköprü war am 27. Juni 2001 im Lebensmittelgeschäft seines Vaters in Hamburg-Bahrenfeld von den NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen worden. Er hinterließ seine Frau und eine kleine Tochter.
Einziges Bundesland ohne Parlamentarischen Untersuchungsausschuss
Der 31-Jährige war eines von zehn Mordopfern des rechten Terror-Netzes "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) um das Trio Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe. In den Jahren zwischen 2000 und 2007 ermordeten sie deutschlandweit acht türkischstämmige und einen griechischstämmigen Kleinunternehmer sowie eine Polizistin. Die Sicherheitsbehörden hatten den Zusammenhang der Taten lange nicht erkannt und zunächst im Umfeld der Opfer ermittelt.
Hamburg ist das einzige Bundesland, in dem der NSU gemordet hat und in dem die Taten nicht von einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss untersucht wurden. Im April vergangenen Jahres hatte die Bürgerschaft eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Hamburger Falls beschlossen.
Gutachten soll in drei Jahren fertig sein
Mit der Vergabe an die Uni Bochum gehe die Bürgerschaft nun den nächsten Schritt, "um einen neuen Hamburger Beitrag zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes beizusteuern", sagte Veit. "Die Studie wird sich den komplexen Strukturen des NSU und den Versäumnissen der Behörden anders nähern, als dies bisher in parlamentarischen Ausschüssen und Gremien bundesweit und in Hamburg möglich war."
Mit der Fertigstellung des Gutachtens werde in drei Jahren gerechnet. Bis dahin soll es bereits Zwischenberichte geben. (dpa/mig)
Bildunterschrift: Die Drei-Täter-Theorie wird zunehmend unglaubwürdiger.
_______________________________________________
Kontext: Wochenzeitung Online, 20.11.2024:
Buch ""Reichsbürger" im Südwesten" / Die Radikalisierung des Ingo K.
Von Timo Büchner|
Als die Polizei 2022 die Waffe des "Reichsbürgers" Ingo K. in Bobstadt einziehen wollte, eskalierte der SEK-Einsatz. Unser Autor hat den Gerichtsprozess gegen Ingo K. begleitet, dessen Radikalisierung rekonstruiert, rechtsextreme Netzwerke beleuchtet und aus alldem ein Buch gemacht. Ein Auszug.
Barfuß steht ein Mann mit grauweißem Vollbart und Pferdeschwanz auf einem gepflasterten Platz. Er trägt ein ärmelloses Hemd und einen schwarzen Rock. Seine Arme sind tätowiert. In seiner linken Hand hält er eine Schamanentrommel, in seiner rechten einen Schlegel. Daneben: ein Mann mit Sonnenbrille und neongelber Warnweste. Schwungvoll klatscht er in die Hände. Dahinter: ein Autoanhänger mit hölzernem Rednerpult und ein aufgespanntes Transparent mit der Aufschrift "Querdenker".
Das Foto, das in den Sozialen Netzwerken verbreitet wurde, ist am 13. Juni 2020 entstanden und hält einen Ausschnitt der "4. Mahnwache für das Grundgesetz" fest. Die Versammlung, organisiert von "Querdenken 793 - Bad Mergentheim", fand auf dem Deutschordenplatz statt. Der Platz liegt inmitten der Altstadt von Bad Mergentheim ( … ). Mehrere Rednerinnen, Redner teilten gegen die Corona-Politik aus - und mittendrin stand der Mann mit der Trommel: Ingo K., der damals 52 Jahre alt war und in Niederstetten-Rüsselhausen im Main-Tauber-Kreis wohnte.
Ingo K. stammt aus Plauen, einer sächsischen Kleinstadt in der ehemaligen DDR. 1987 machte seine Mutter eine Reise in den Westen, um ihre Verwandtschaft in Bottrop (Nordrhein-Westfalen) zu besuchen. Aus ihrer Reise wurde ihre Ausreise. Er beschloss, einen Ausreiseantrag zu stellen. 22 Jahre war Ingo K. alt, als sein Antrag im Juni 1989 bewilligt wurde. Daraufhin verließ er die DDR und folgte seiner Mutter nach Bottrop. Doch rasch zog es ihn in den Süden, da seine damalige Partnerin in Braunsbach im Landkreis Schwäbisch Hall wohnte.
Ingo K. - der bereits mit acht Jahren begann, erst Judo, dann Karate zu trainieren - eröffnete ein Kampfsportstudio in Öhringen im Hohenlohekreis. Bereits nach zwei Jahren ging das Studio insolvent. An verschiedenen Orten versuchte er im Laufe der Zeit, ein erfolgreiches Unternehmen zu führen. Ohne Erfolg. Ingo K. scheiterte nicht nur im Beruflichen, sondern auch im Privaten. Er ist mehrfach geschieden und wurde mehrfach verurteilt.
Ingo K. nahm gemeinsam mit Robert V. aus Schwäbisch Hall an der Mahnwache in Bad Mergentheim teil. Die beiden sind langjährige Weggefährten. V. betreibt ein "Mahnmal gegen das Vergessen" mit einer "Leine des Grauens". Das Mahnmal, das an die Opfer der deutschen Asyl- und Migrationspolitik erinnern will, zeigt schwarze Hände mit Blutspuren. Die Botschaft, die V. mit dem Mahnmal vermittelt, ist klar: Schwarze Menschen seien kriminell, seien Mörder, Räuber, Vergewaltiger. ( ... )
An der "Leine des Grauens" hängen Hunderte Zettel. Sie sollen dokumentieren, was einst ein AfD-Politiker mit der Hetzparole "Masseneinwanderung heißt auch Messer-Einwanderung" beschrieb: dass Asylsuchende einen Hang zu brutaler Gewalt hätten. Sowohl im Netz als auch auf der Straße sucht V. die Öffentlichkeit. So präsentierte er sein Mahnmal samt Leine auf dem Deutschordenplatz. Er nutzte die Bühne, um eine Rede zu halten und die Stimmung anzuheizen.
So rechnete er in seiner Rede vor, wie viele und welche Straftaten die eingewanderten Menschen in der Bundesrepublik begehen und wie hoch der Anteil jener Menschen in deutschen Gefängnissen ist. In seiner Rede behauptete V., die politisch Verantwortlichen würden die Verbrechen "unter den Tisch kehren". Aufrührerisch verkündete er am Ende: "Wir sind in einer historischen Zeit. Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Für die Freiheit oder für die Knechtschaft." Noch während der Versammlung verließ die Hälfte aller Teilnehmerinnen, Teilnehmer den abgesperrten Platz.
Im Telegram-Chat von "Querdenken 793 - Bad Mergentheim", in dem die Mahnwachen organisiert wurden, entbrannte harsche Kritik. "Guten Morgen, ich habe gestern die Demo verlassen", schrieb eine Frau. "Ich wohne keiner Demo bei, auf der gegen Immigranten gehetzt wird!!!" Sie erntete Widerspruch, aber bekräftigte, die Rede habe "auf einer Demo für Frieden und Freiheit nichts zu suchen". ( ... )
Vor Gericht behauptet Ingo K. später, er selbst habe bloß eine Viertelstunde an der Versammlung teilgenommen, um "für die Mannschaft" zu trommeln. Wiederholt erklärt er, die Mahnwache vom 13. Juni 2020 sei seine einzige Querdenken-Mahnwache in Bad Mergentheim gewesen. Doch das ist gelogen. Beispielsweise besuchte er mit V. auch die "2. Mahnwache für das Grundgesetz". Die Versammlung fand am 16. Mai 2020 vor dem Alten Rathaus statt. Im grauen Polohemd und in knielanger Wanderhose stand V. auf einem Nachtschränkchen und hielt eine kurze Rede. ( ... )
Als dieser seine Rede beendete, trat Ingo K. in einer grellen Ordner-Weste an das Schränkchen, um das Mikrofon entgegenzunehmen. Auch er, mit Sonnenbrille in den Haaren und seiner Trommel in der Hand, sprach im Laufe der Versammlung. Die beiden hatten Routine: Schon damals, als die Querdenken-Mahnwachen stattfanden, konnten sie auf unzählige Demonstrationen zurückblicken. Beispielsweise hatten sie an rechtsextremen Versammlungen in Öhringen im Hohenlohekreis und in Kandel (Rheinland-Pfalz) teilgenommen. Die Demonstrationen hatten ein Thema: die Einwanderung. Das Thema brachte Besorgte, Empörte, Verängstigte mit AfD, Neonazis und "Reichsbürgern" zusammen.
Ab 2015 protestierte "Hohenlohe wacht auf", eine Art regionaler Pegida-Ableger, in Öhringen. Mit seinen Reden prägte V. die Versammlungen. Regelmäßig trat er auf, um gegen die angebliche "Islamisierung" zu wettern. Auf Worte folgten Taten im Hohenlohekreis: Am 17. November 2016 zündeten Unbekannte eine Asylunterkunft in Pfedelbach an. Nur zwei Monate später, am 19. Januar 2017, brannte eine Unterkunft in Neuenstein. Schnell wurden die beiden Täter im Falle der zweiten Brandstiftung gefasst. Die Männer waren bei "Hohenlohe wacht auf" aktiv. Als "Hohenlohe wacht auf" am 8. September 2018 mit der "Leine des Grauens" durch die Öhringer Innenstadt zog, stand Ingo K. mit seinem Hund am Rande des Protestzugs - denn das Führen von Hunden war untersagt.
Ab 2018 protestierte "Kandel ist überall", eine Initiative der AfD-Politikerin Christina Baum aus dem Main-Tauber-Kreis, in Kandel. In ihrem "Manifest" forderte "Kandel ist überall" "den sofortigen Stopp jedweder Zuwanderung nach Deutschland". ( ... ) An der Demonstration nahmen mehr als 4.000 Menschen teil. Ein Foto zeigt Ingo K. mit einer türkisfarbenen Gesichtsbemalung und seiner Trommel. ( ... )
In der Corona-Pandemie blickte er mit Ernüchterung auf die Demonstrationen zurück. Offenbar schrieb er im Telegram-Chat von "Querdenken 793 - Bad Mergentheim": "Ich geh jetzt seit fünf Jahren auf Demo und es war immer das gleiche Ergebnis … Infiltration … Zersetzung … Spaltung … Ende". ( ... ) Mit den Protesten gegen die Asyl- und Migrationspolitik setzte die Radikalisierung ein, mit den Protesten gegen die Corona-Politik spitzte sie sich zu. Ingo K. erlebte mit dem Ausbruch der Pandemie und den Querdenken-Mahnwachen in Bad Mergentheim einen erheblichen Radikalisierungsschub.
Die Radikalisierung fand Ausdruck in seinem Alltag: Fast täglich ging er mit seiner Nachbarin und den Hunden in Rüsselhausen spazieren. Einmal behauptete er, in FFP2-Masken seien Würmer. Auf die Frage der Nachbarin, warum Würmer in den Masken sein sollten, zuckte er mit den Schultern. Dann entgegnete er, die Würmer würden in die Atemorgane eindringen und die Menschen krankmachen. Ingo K. lehnte das Tragen einer FFP2-Maske ab. "Das hält man nicht aus", klagte er und verwies auf seine Asthma-Erkrankung. Durch seine Weigerung, eine Maske zu tragen, verlor er einen Arbeitsplatz in einer Firma. ( ... )
Im Prozess sagt die Nachbarin, Ingo K. sei ein "sehr ruhiger Mensch". Ihr Ehemann bestätigt, er sei "aufgeschlossen" und "freundlich". Auch der Vermieter pflichtet bei, er sei "freundlich" und "hilfsbereit". Aber: Für Ingo K. seien Chemtrails ein Thema gewesen. Chemtrails - das Wort ist eine Zusammensetzung aus Chemicals (Chemikalien) und Contrails (Kondensstreifen). ( ... ) Als er im Sitzungssaal mit der Verschwörungserzählung konfrontiert wird, bekräftigt er seine Haltung. Ein Bekannter berichtet ebenfalls, Ingo K. habe über Chemtrails gesprochen. Das Gift werde in den Treibstoff gemischt, um der Menschheit zu schaden.
Neben Chemtrails habe er auch über Bunker in Ostdeutschland erzählt. In geheimen Bunkern würden "Millionen arabischer Flüchtlinge" versteckt, um sie "auf einen Schlag" auf die Deutschen "loszulassen". Daher wolle er mit Freundinnen, Freunden in den Osten fahren, um nach Bunkern zu suchen. Das habe er durchaus ernst gemeint. ( ... ) Ingo K. behauptet jedoch, all das sei "Sarkasmus" gewesen. ( ... ) Eine ehemalige Arbeitskollegin schildert Gegenteiliges: Vor Gericht sagt sie, er sei "extrem überzeugt" gewesen. So habe er gefragt, ob sie schon einmal im McDonalds gegessen habe. Als sie die Frage bejahte, habe er behauptet, "die Juden" würden Kinder schlachten und das Fleisch in McDonalds-Filialen verkaufen. Diese Erzählung fußt auf der Ritualmord-Legende. ( ... ) Eindrücklich beschrieb die ehemalige Arbeitskollegin gegenüber "Spiegel TV", wie schockiert Ingo K. war, als er erfuhr, dass sie mit ihren Kindern im McDonalds gegessen hatte.
Ingo K. erzählt im Prozess, er habe sich, da er am Empfang einer Firma arbeitete und viel Zeit hatte, "durch die Geschichte gewühlt". Sich "interessehalber" mit Verschwörungsmythen befasst. Stets habe er "mit Leuten drüber reden" wollen, doch habe er "keine Stellung bezogen". Nie habe er gesagt, dass das, was er gegenüber Bekannten erzählte, auch stimmen würde. Er "provoziere" und "verarsche" bloß gerne. Aber seine Nachbarschaft hat andere Erfahrungen gemacht. Die Nachbarinnen, Nachbarn finden klare Worte im Sitzungssaal. Eine Nachbarin sagt, man habe "in verschiedenen Welten gelebt". Ursache seien Videos, die Ingo K. in Telegram-Kanälen angeschaut und verbreitet hatte, gewesen.
Offenbar war Telegram seine antreibende "Radikalisierungsmaschine".
Bildunterschrift: Reichsbürger Ingo K. vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart, November 2023.
_______________________________________________
|