Bielefelder Tageblatt (MW) / Neue Westfälische ,
26.05.2005 :
Nach fünf Tagen Bunker endlich ruhiger Schlaf / Nazis drohten mit Hinrichtung (Senioren schreiben / Spezial)
Die offizielle Besetzung Bremens erfolgte am 27. April 1945. Für meine Mutter, meine 18-jährige Schwester und mich, 14, war es am Vortag vorbei gewesen. Wir saßen seit fünf Tagen und Nächten im überfüllten, dunklen und stickigen Hochbunker. Neben Gas und Wasser war auch der Strom - Beleuchtung und Frischluftzufuhr - ausgefallen.
Bombenangriffe kannten wir seit Jahren, aber jetzt wurden wir mit Artilleriegranaten bedroht, die schon einige Nachbarn, die nur zum Luftschöpfen hinausgegangen waren, getötet oder verletzt hatten. Niemand wagte mehr, Wasser von der Pumpe oder Essen von zu Hause zu holen. Meine Mutter, Witwe, war erschöpft von ihrem Dienst in der Zentrale eines Flugzeugwerkes, und wir alle sorgten uns um meine 21-jährige Schwester, die zu einer Scheinwerferbatterie außerhalb von Bremen dienstverpflichtet worden war.
Waren die Engländer kultiviert und fair, wie unsere Englischlehrerin behauptet hatte, die in Oxford studiert hatte? Durch den Handel bestanden zwischen unserer Stadt und England viele familiäre Verbindungen, und die englischen Verwandten unserer Freunde waren uns nie fremd vorgekommen.
Aber beim letzten Hitlerjugend-Appell wurde uns befohlen, "im Falle einer vorübergehenden Besatzung dem Werwolf beizutreten und den Feind aus dem Hinterhalt zu bekämpfen!" Meine Mutter hatte uns das energisch verboten. Die Nazis drohten, vom Feind hätten wir Schreckliches zu erwarten. Darum dürfe Bremen keinesfalls kapitulieren. Wer die weiße Fahne zeige, sei ein Verräter und würde sofort hingerichtet.
Nachdem Artillerie- und Bombenlärm etwas abgeflaut waren, hörten wir Maschinengewehrfeuer, dann wurde es ruhig. Plötzlich hieß es, unser Stadtteil sei besetzt. Benommen taumelten wir ins Freie, in die Helligkeit eines Frühlingstages, vorbei an einem großen englischen Panzer. Die Geschütze waren auf uns gerichtet. Ein englischer Soldat vom Wiltshire-Regiment erklärte uns auf Deutsch: "Die Zivilbevölkerung kann jetzt in ihre Häuser gehen. Wir raten aber, bei Anbruch der Dunkelheit Ihre Keller oder den Bunker aufzusuchen, da in der Nacht noch mit Gewehrfeuer zu rechnen ist!" Das sollten unsere schrecklichen Feinde sein? Erleichtert gingen wir heim. In dieser Nacht schliefen wir nach langer Zeit gewaschen, im Nachthemd, lang ausgestreckt auf unseren Matratzen im Keller, das war ein Genuss! Ich ahnte nicht, dass ich Jahrzehnte später in Wiltshire versöhnt an meine erste direkte "Feind-Berührung" zurückdenken würde.
Sigrid Krätschmar
26./27.05.2005
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