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Radio Bielefeld , 16.12.2021 :

Zehn neue Stolpersteine erinnern an Nazi-Opfer in Bielefeld

An drei Stellen in Bielefeld sollen heute Nachmittag weitere Stolpersteine verlegt werden, zusammen mit dem Künstler Gunter Demnig. Die Stolperstein-Initiative Bielefeld, Nachkommen der betroffenen Familien und Schülerinnen der Marienschule sind in der Henriettenstraße dabei. Die Steine erinnern an die von Nazis vertriebenen und getöteten Menschen, die dort früher lebten.

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Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt, 30.11.2021:

Stolpersteine für vier ermordete Juden

Die Studentin Lilith Blöbaum (20) recherchierte zum Schicksal jüdischer Bürger in der NS-Zeit / Sie knüpfte Kontakte zu Angehörigen der Bielefelder Opfer / Nun werden Gedenksteine vor ihrem Elternhaus verlegt

Heike Krüger

Bielefeld. Es ging ihr wie vielen Juden, die den langen Arm der Nazis unterschätzten oder sich ihm widersetzten und das mit dem Leben bezahlten: Die Jüdin Johanna Dreyer hatte 1939 der behördlichen Anordnung, ihr Zuhause zu verlassen, noch in einem Brief an den damaligen Bielefelder Oberbürgermeister widersprochen: "Ich verlasse Bielefeld nicht", hatte sie trotzig geschrieben.

Fünf Monate später wurde sie und ihre Untermieter Leo Sondermann, Meta und Hertha Goldstein in ein so genanntes "Judenhaus" zwangsumgesiedelt. Im Juli 1942 gehörte Johanna zu den Hunderten Bielefelder Juden, die vom Hauptbahnhof erst ins KZ Theresienstadt verschleppt wurden. Dann ins Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurden.

Dieses dunkle Kapitel im Vorbeigehen ins Bewusstsein rufen

Lilith Blöbaum haben die Themen NS-Zeit und Holocaust schon während ihrer Schulzeit am Ratsgymnasium berührt und auch nicht losgelassen, als sie in Berlin ihr Studium der Geschichte und der Kommunikationswissenschaften begann. Die Stolperstein-Projekte des Künstlers Gunter Demnig und der angeschlossenen lokalen Initiativen waren der 20-Jährigen längst ein Begriff.

Passanten, die die messingglänzenden Steine mit Gravur zufällig oder bewusst wahrnehmen, die dieses dunkle deutsche Kapitel ohne Umschweife ins Bewusstsein rufen - diese Form der Erinnerung an die Gräueltaten des NS-Regimes gefiel der jungen Bielefelderin. Ob auch in ihrem Elternhaus, einem Gründerzeitbau an der Laerstraße, jüdische Menschen gelebt hatten, die so ein tragisches Schicksal erlitten?

Lilith begann zu recherchieren. Im Internet, im Stadtarchiv an Hand von Zeitungsausschnitten und Deportationslisten, schließlich im direkten Austausch mit Zeitzeugen und Angehörigen der Opfer. Und sie wurde fündig: Johanna Dreyer (Jahrgang 1869 als geb. Hammerschlag), deren Mann bereits 1919 gestorben war, lebte im Haus Laerstraße 12. Weil sie der Verfügungsgewalt über ihr Vermögen bereits enthoben war, musste sie den Großteil der Wohnung an Leo Sondermann (geb. 1879) und Meta Goldstein (geb. 1883) vermieten, Juden wie sie selbst.

Ihr Los und das der Schwester Metas, Hertha (geb. 1888), die zuletzt im Haus des Rabbiners Kronheim am Goldbach 16 lebte und dann ins Judenhaus umgesiedelt wurden, arbeitete die junge Frau intensiv auf.

Das Wissen, in einem Haus aufgewachsen zu sein, das vier andere Menschen in ungeheuren Zeiten unter Zwang verlassen mussten, sei schon merkwürdig. "Die Goldstein-Schwestern und Leo Sondermann wurden am 13. Dezember 1941 in das KZ Riga deportiert und ermordet. Beide Familien wurden nahezu vollständig ausgelöscht", schildert Lilith Blöbaum, die rund zwei Jahre, teils neben dem Studium, an dem Thema gearbeitet hat.

Ein Problem bei der Recherche: "Die Nazis haben alles versucht, um ihre Spuren zu verwischen." Doch Lilith blieb hartnäckig, durchforstete Dokumente und alte Zeitungen. "Es war und ist für mich ein Triumph, wenn ich etwas Wichtiges finde. Gerade weil die Nazis versucht haben, alles auszulöschen", sagt sie. Dann denke sie manchmal: "Wir klären das auf, ihr habt es nicht geschafft, diese Menschen unsichtbar zu machen." Dennoch sei es auch bedrückend gewesen, sich mit deren Schicksalen auseinanderzusetzen. Mit Menschen, die eine konkrete Biografie, ein Gesicht haben.

Doch ein zweiter Recherche-Strang habe ihr geholfen, der Trauer über das, was geschah, einen hoffnungsvollen Aspekt zu geben: Lilith suchte nach Hinterbliebenen der Opfer. Und hier halfen ihr besonders die modernen Sozialen Medien. Am Ende steht der Kontakt zu Lennard Hammerschlag, in Atlanta / USA lebender Großneffe von Johanna Dreyer. Sein Großvater war der einzige der sechs Geschwister Johannas, der es von Deutschland nach Rhodesien (heutiges Simbabwe) schaffte. Lennards Geschwister Mark und Shirley, fand sie heraus, leben als letzte Nachkommen der Großfamilie in Südafrika.

Keiner der Ermordeten hat einen Grabstein, aber einen Gedenkort

Lennard sei "wahnsinnig gerührt gewesen, dass eine so junge Frau sich um das Schicksal seiner Familie kümmert", so Lilith. "Keiner der Ermordeten hat einen Grabstein. Die Stolpersteine sind ihre persönlichen Gedenkorte. So geraten sie nicht in Vergessenheit", hatte Lennard Hammerschlag an die Studentin geschrieben.

"Inzwischen gibt es eine Hammerschlag-WhatsApp-Gruppe, in der ich Mitglied bin", berichtet diese stolz. Zwar hatte Lennard Hammerschlag geplant, aus den USA zur Stolperstein-Verlegung am 16. Dezember (15 Uhr) in die Laerstraße 12 zu kommen. Das Aufflammen der Pandemie macht ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung. "Immerhin", freut sich die junge Bielefelderin, "kann er per Video-Call teilnehmen".

Bildunterschrift: Recherche: Lilith Blöbaum hat sich für die Verlegung von vier Stolpersteinen vor ihrem Elternhaus stark gemacht. In den Händen hält sie ein Foto der Familie Sondermann, deren Spross Leo Sondermann einer von vier Steinen gewidmet wird.

Bildunterschrift: Das Gründerzeithaus von 1903 an der Laerstraße 12.

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Am 16. Dezember 2021 werden für Johanna Dreyer, Leo Sondermann, Meta sowie Hertha Goldstein - vom "Judenhaus" deportiert und ermordet - vor dem Haus Laerstraße 12 in Bielefeld vier Stolpersteine verlegt.

Am 28. Juli 1942 wurde die Jüdin Johanna Dreyer, Jahrgang 1869, als geborene Hammerschlag, der letzte frei gewählte Wohnort war Laerstraße 12, Bielefeld, über Bielefeld in das Ghetto Theresienstadt deportiert.

Am 13. Dezember 1941 wurden Leo Sondermann (1879) Meta (1883) sowie Hertha Goldstein (1888), aus einem "Judenhaus" in Bielefeld, vom Hauptbahnhof Bielefeld in das Ghetto Riga deportiert und ermordet.

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www.stadtarchiv-bielefeld.de

www.stolpersteine-bielefeld.de


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