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Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische , 07.05.2005 :

Der lange Weg in die zerstörte Heimat / Theo Fockele schlug sich zu Fuß nach Paderborn durch

Als die Nachricht vom Kriegsende bekannt wird, ist Theo Fockele weit weg von der Heimat. Zu Fuß versucht der junge Soldat sich nach Paderborn durchzuschlagen. Mit jeder Menge Unruhe im Herzen. Denn schon Anfang April hat er Schlimmes gehört. Der amerikanische jüdische General Rose sei in Paderborn von Werwölfen erschossen worden. Die Amerikaner hätten keine Gefangenen gemacht.

Sofort stellt sich bei dem jungen Mann eine belastende Furcht um den Vater ein, von dem er wusste, dass er seit Dezember zum Volkssturm verpflichtet war. Schreckliche Alpträume kehren in den Nächten wieder. Doch es soll noch einige Wochen dauern, bis der 20-Jährige an der Pader angelangt.

"Paderborn? Dahin brauchst Du gar nicht mehr zu gehen", muss Theo Fockele hören, als er Soldaten trifft, die der Schließung des Ruhrkessels entkommen sind und in Mecklenburg gegen die Russen neu aufgestellt werden. Die alte Bischofsstadt sei ein einziges Flammenmeer gewesen, der Domturm habe wie eine Fackel gebrannt und es lebe wohl niemand mehr, berichten die Soldaten.

"Du musst auf den schnellsten Weg nach Hause, gucken, was in Paderborn los ist!" Das sei einziger Gedanke gewesen, kann sich Fockele jetzt, 60 Jahre später, sehr gut erinnern. Ende April 1945 jedoch ist der junge Mann weit davon entfernt, Gewissheit zu erlangen. Zusammen mit drei Kameraden ist er auf dem Weg von Dessau-Rosslau über Berlin-Krampnitz und Güstrow. Dorthin ist die Führerreserve-Ost, die die jungen Männer in den Fronteinsatz schicken will, am Tag, bevor der Ring um Berlin geschlossen wurde, verlegt worden. Kaum in Güstrow eingetroffen, steht auch hier der Russe schon vor der Tür, und der Befehl lautet: Schlagt euch durch nach Neumünster!

Auf diesem gefährlichen Gang durch das Chaos des endenden Krieges beobachten die jungen Männer am 3. Mai aus einem Versteck heraus, wie britische Panzer von Travemünde her in Richtung Neustadt rollen – ohne dass ein Schuss fällt. In der Lübecker Bucht liegen die Schiffe "Cap Arcona", "Thielbeck" und "Deutschland" vor Anker in der Fahrrinne nach Neustadt. Von den Einheimischen erfahren Theo Fockele und seine Begleiter, dass sich auf ihnen tausende KZ-Häftlinge befinden, die von Nauen und Oranienburg durch Mecklenburg marschiert und tagelang hier eingeschifft worden sind. In der Mittagszeit werden die Schiffe von britischen Jagdbombern und Schlachtfliegern in mehreren Anflügen mit Bomben und Granaten beschossen, fangen Feuer, brennen aus. Tatenlos müssen die vier dem Gemetzel zusehen.

Die Soldaten beschließen nun, nachdem ihnen die Briten zuvorgekommen sind und ihnen den Weg nach Neumünster abgeschnitten haben, sich nach Westen über die Elbe durchzuschlagen. Den Russen wollen sie keinesfalls in die Hände fallen. Nach drei Nachtmärschen stehen sie morgens an der Elbe bei Glückstadt. In der nächsten Nacht, in der Nacht zum 8. Mai, setzen sie auf einem aus leeren Spritkanistern selbst gebauten Floß über den Fluss. Am jenseitigen Ufer trennen sich ihre Wege, zwei ziehen Richtung Bremen, Fockele und Ernst Müller wenden sich nach Süden.

Ständig müssen sie auf der Hut sein. Befreite Kriegsgefangene und Fremdarbeiter, die sich bewaffnet haben, sind unterwegs, schießen auf deutsche Landser, überfallen Häuser und Höfe und plündern. Zwei Tage später rät ihnen ein Lehrer, Nachtmärsche zu unterlassen, weil mit Eintritt der Dunkelheit Ausgangssperre angeordnet sei. Er teilt ihnen auch mit, dass der Krieg endgültig aus ist. Doch davon, nun sorglos und befreit in die Heimat zu ziehen, sind sie weit entfernt. Ohne gültige Papiere, ohne Entlassungsschein, ohne Dokumente der Sieger ist das Reisen durch die Wirren des Kriegsendes lebensgefährlich. Und dann sind da ja auch noch die Sorgen um die Familie. Oft denkt Theo Fockele an sein Zuhause und die Freundin, die im letzten Herbst von der Schulbank weg noch zum Reichsarbeitsdienst nach Hinterpommern eingezogen wurde.

In einer Waldschneise in der Lüneburger Heide fallen sie einer britischen Streife in die Hände, die sie ins Gefangenenlager Munsterlager schleppt. Nach drei Tagen finden die beiden ein Loch im Stacheldrahtzaun und robben in die Freiheit. Durch Aller und Mittellandkanal schlagen sie sich weiter nach Süden durch, nach Möglichkeit Brücken, Engpässe und Ortschaften meidend. Ernst Müller zieht nun nach Osterode, Theo Fockele nach Westen weiter, über die Leine, den Deister, durch die Weser. Am Abend des 19. Mai erreicht er schließlich Altenbeken, wo er Post aus der Lüneburger Heide abgeben muss. Die Empfänger gewähren ihm für die Nacht Unterkunft. Sie erzählen, dass die Umgebung der Paderborner Molkerei an der Benhauser Straße stark zerstört sei. Eine Nachricht, die Fockele ängstigt. Schließlich lebt seine Familie am Dörener Weg.

"Mutter weinte, als sie die Tür öffnete. Ich dachte schon, Vater sei tot!"

Am nächsten Morgen, es ist der Pfingstsonntag 1945, bricht er in aller Frühe auf. Über den Dumberg, über Redingerhof, Kleehof, Dören ist er gegen 9 Uhr am Rande Paderborns. Er kann aufatmen. Das Haus steht noch, zwar ohne Fensterscheiben und mit geflicktem Dach. "Mutter weinte, als sie mir die Tür öffnete", lächelt der heute 80-Jährige versonnen. "Ich dachte schon, Vater sei tot." Doch die Eltern haben den Krieg überlebt und der Bruder meldete sich erst Monate später aus der Kriegsgefangenschaft aus Eckernförde. Das Haus bietet nun vielen Verwandten, die ausgebombt sind, eine Heimstatt.

Einen Blick auf den verwüsteten Stadtkern wirft Theo Fockele erst Monate später. Für ihn nämlich geht das Leben sofort weiter. Und das heißt: Arbeit finden und nicht Eltern und Verwandten die kärglichen Mahlzeiten noch verkürzen. Auf Gut Rosenkranz stellt ihn der Verwalter ein.

Sieben Landser, darunter Heinz Nixdorf, bringen dort in diesem Jahr die Ernte ein. Was bringt die Zukunft? Noch in diesem Herbst, wenn er auf seinem Lanz-Trecker mit dem Pflug die Furchen zieht, findet der junge Mann, auf dessen Abiturzeugnis vom 12. Februar 1943 "Forstlaufbahn" als Berufswunsch vermerkt ist, seine Berufung: Er beschließt Lehrer zu werden. (JS)

07./08.05.2005
lok-red.paderborn@neue-westfaelische.de

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