Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische ,
07.05.2005 :
Kriegsende im Lazarett / Der 79-jährige Erwin Lutzke erinnnert sich an die letzten Wochen des Krieges
Mit großer Erleichterung hört auch der 19-jährige Erwin Lutzke vom Kriegsende. In den Kämpfen auf den Seelower Höhen, bei denen 33.000 russische und 12.000 Soldaten starben, ist er verletzt worden. Am 8. Mai liegt er in einem Feldlazarett in Flensburg, als Ärzte die gute Nachricht verbreiten. Seine Erinnerungen an die letzten Wochen des Schreckens:
"Nach erster Verwundung im Januar 1945 in Ostpreußen und Lazarettaufenthalt in Hamburg-Rahlstedt ab 25. Februar 1945 wieder "KV" d.h. Kriegsdienst-Verwendungsfähig. Auffangstelle Westerbrarup/Kappeln (Holstein) 14. März 1945: Ein Trupp von 36 Männern und drei Unteroffizieren wird zur Wehrmachtskommandantur nach Oranienburg bei Berlin abkommandiert, von dort zur Frontleitstelle nach Straußberg und weiter mit Lkw auf die Seelower Höhen im westlichen Oderraum und dort der Division Kurmark zugeteilt.
Der Kompaniegefechtsstand in der Eichendorfer Mühle sucht übersichtliche Geländepunkte aus. Die ausgebauten Stellungen sind alle besetzt. Mit einigen Kameraden werde ich ein Kilometer nördlich von Hermersdorf eingewiesen. In 1.000 Meter vor uns der Pfingstberg.
15. März 1945: 17 Uhr stellen wir die Zelte auf und gehen sogleich an die Arbeit, heben einen Laufgraben aus und bauen Erdbunker. Es wird gegraben, geschaufelt, es werden Bäume gefällt. In zehn Tagen ist unser Stützpunkt verteidigungsbereit - mit einem Maschinengewehr, zehn Gewehren, zehn Panzerfäusten und einigen Handgranaten.
14./15. April 1945: Jetzt beginnen die ersten Aufklärungsangriffe der Russen an der Oder. Die Großoffensive setzt am 16./17. April im Morgengrauen ein.
17. April 1945: Ein russischer Spähtrupp dringt in unsere Linie vor. Nachdem zwei deutsche Panzerspähwagen auftauchten, zogen sich die Russen ins sumpfige Gelände zurück.
18. April 1945: Während des dritten russischen Großangriffs fanden östlich von Pfingstberg in der Hardenberger- und Wulkower-Stellung die härtesten Kämpfe statt. Am Morgen dann Streufeuer in unsere Stellung. Eine Granate explodierte in den Bäumen, ein Dutzend Splitter streiften meinen Stahlhelm, davon durchschlug einer den Stahlhelm, bewegte sich zwischen Schädel und Kopfhaut und blieb auf dem Auge liegen. 72 russische Panzer, die den Kampf überstanden hatten, steuerten mit ihrer Infanterie nach Norden, Richtung Wriezen und Bad Freienwalde/Oder. Der Lärm war vorbei, ich wurde vom Sanitäter verbunden, erhielt meinen Verwundetenschein und marschierte "einäugig" durch das Stobbertal zur Eichendorfer Mühle. Ein Fahrzeug nahm mich bis Bollersdorf mit. Dort begann mein elfstündiger Fußmarsch nach Königswusterhausen bei Berlin. An jeder Straßenkreuzung kontrollierte Wehrmachtspolizei. Soldaten, die ihre Stellungen unerlaubt verlassen hatten, waren zur Abschreckung aufgehängt an den Straßenbäumen zu sehen.
"Frieden und Freiheit waren nun ein Stück näher gerückt"
In den vielen Stunden habe ich nicht einen Verwundetentransport gesehen, von einem Versorgungsfahrzeug wurde ich etwa 15 Kilometer mitgenommen und erreichte in der Dunkelheit den Bahnhof Königswusterhausen. Drei Verwundetentransportzüge standen unter Dampf. Die Stadt räumte in Eile ihre Lazarette. Spät abends setzte sich der erste Zug in Bewegung, indem ich noch einen Platz fand. Zwei Tage später wurden in Flensburg die Türen geöffnet. Ein großes Glücksgefühl überkam mich, Frieden und Freiheit waren nun ein Stück näher gerückt. Die Stadt stellte für die Verwundeten ein Lyzeum als Lazarett zur Verfügung.
Am 8. Mai 1945 war mit der Kapitulation der Krieg endlich zuende. Eine große Erleichterung stellte sich ein, aber wie sollte es jetzt weitergehen? Als die Essensrationen immer knapper wurden, behielt das Lazarett nur noch die Schwerverwundeten, alle anderen wurden am 22. Mai 1945 den Engländern übergeben. Im Juli erfolgte die Entlassung nach Holzminden.
Im Oktober 1947 ist erst der gefährliche Splitter über dem Auge in der Uniklinik in Göttingen entfernt worden."
Eine Kuriosität erlebt Lutzke zwei Tage nach Kriegsende. Am 10. Mai wird ihm das Verwundetenabzeichen in Schwarz angeheftet - von Ärzten im Lazarett. "Die hatten das wohl noch", sucht er jetzt, 60 Jahre später, eine Erklärung für auch diesen Widersinn des Krieges. Erwin Lutzke baut ab 1963 den Obsthof in Schloß Harnborn auf. (JS)
07./08.05.2005
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