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Mindener Tageblatt , 11.05.2005 :

Ratsgymnasiasten beim "March of the Living" / Acht Mindener Schüler kehren mit eindrucksvollen Erlebnissen von ihrem Besuch in Auschwitz zurück nach Minden

Minden (mt/hn). Zusammen mit etwa 20.000 Teilnehmern aus aller Welt hatte eine Gruppe von Ratsgymnasiasten in der letzten Woche die Gelegenheit, im Rahmen des dies-jährigen "March of the Living" die drei Kilometer vom ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz nach Birkenau bei einem beeindruckenden Schweigemarsch mitzugehen.

Zum ersten Mal überhaupt war auch eine Gruppe von etwa 600 Deutschen bei dieser Veranstaltung, die zum 60. Jahrestag des Kriegsendes im Gedenken an die Todesmärsche veranstaltet wurde. Auch eine Delegation von etwa 25 Abgeordneten des Deutschen Bundestags reihte sich in den Marsch ein.

Unter Federführung des Deutschen Bundesjugendringes in Berlin absolvierten die Ratsschüler zusammen mit ihrem Geschichtslehrer Georg Kaiser ein anstrengendes, aber außerordentlich lohnendes Programm, das zunächst die jüdischen Spuren im heutigen Polen aufzeigte.

So unternahm die Gruppe zunächst in Wroclaw, dem früheren Breslau, einen Rundgang über den jüdischen Friedhof, auf dem neben berühmten Wissenschaftlern und Künstlern einer der Begründer der SPD, Ferdinand Lassalle, begraben ist. Nach der Besichtigung der im Wiederaufbau befindlichen Synagoge blieb nur wenig Zeit für die vorbildlich restaurierte Innenstadt.

Erinnerungen weiter wachhalten

Ein erster Höhepunkt war am 5. Mai die Teilnahme an dem Marsch, der seit 1988 am jeweiligen Holocaust-Gedächtnistag veranstaltet wird. Tausende von Jugendlichen, Angehörigen und Überlebenden dieses ungeheuerlichsten Ereignisses in der Geschichte der Menschheit kamen aus allen Teilen der Welt zusammen.

Die meisten von ihnen schwenkten israelische Fahnen, aber auch aus Brasilien, Chile, Mexiko, Südafrika, Asien und vielen anderen Ländern und Erdteilen demonstrierten viele Menschen, dass sie unbedingt wollen, dass die Erinnerung - auch nach dem abzusehenden Aussterben der Auschwitz-Überlebenden - wach gehalten wird und die Zukunft in einem Miteinander über alle nationalen Grenzen gestaltet werden muss.

"Ich war auch ein bisschen stolz, dass ich als einer der wenigen Deutschen hier in gewisser Weise auch mein Land vertreten konnte", so die Aussage eines der Jugendlichen aus der Mindener Gruppe. deren Bericht das MT im Folgenden abdruckt.

Viele Bilder kennt man ja aus den verschiedensten Medien, aber wie reagiert man, wenn man unvermittelt einer älteren Dame gegenüber steht, die berichtet, dass ihre gesamte Familie in Birkenau vergast wurde und die plötzlich ihren Unterarm zeigt, auf dem die eintätowierte Häftlingsnummer zu sehen ist? Sie war damals zwölf Jahre alt und wurde von sowjetischen Truppen befreit. "Ich komme jedes Jahr fünf bis sechs Mal hierher", war ihre Antwort auf die offensichtlich naive Frage, ob sie schon einmal wieder hier gewesen sei.

In der Gruppe von Hunderten Franzosen trägt ein Mann ein großes Foto mit dem Bild eines ehemaligen Häftlings des KZ Auschwitz vor sich her. "Who is the man on the photo?" - "That’s me!"

Alle Umstehenden spüren den erheblichen Unterschied, ob man Informationen in Filmen oder Büchern sieht, oder mit der Wirklichkeit so unmittelbar konfrontiert wird. Fassungslos und mit einem kalten Schauer über den Rücken betrachten die Schülerinnen und Schüler die vielen tausend kleinen Holztäfelchen, die an den Schienensträngen, die die Todeszüge ins Lager Birkenau führten, ins Gleisbett gesteckt wurden.

Auf ihnen ist manchmal nur ein Fragezeichen zu sehen, auf anderen steht in allen Sprachen der Welt "Nie wieder" geschrieben, auf sehr vielen ist ein einziger Familienname mit acht, zehn, gar fünfzehn Vornamen zu lesen - Dokumente der Auslöschung ganzer Familien.

Beeindruckend war die anschließende Großkundgebung, die mit einer (leider nur auf Hebräisch gehaltenen) Rede des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon eröffnet wurde. Die Ministerpräsidenten Polens und Ungarns, vor allem der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sowie die irische Bildungsministerin, die im Namen ihrer EU-Kollegen sprach, unterstrichen, dass Auschwitz nicht nur der Ort eines ungeheuren Zivilisationsbruchs sei; von dort müsse vor allem auch die Hoffnung auf ein besseres Miteinander ausgehen.

Bei aller Tragik biete er somit auch die Chance für ein Umdenken über kleinkarierte nationale Grenzen hinweg, die man nicht ungenutzt lassen dürfe.

Am nächsten Tag stellten die verschiedenen Gruppen Projekte ihrer Arbeit vor; außerdem wurde die Gelegenheit genutzt, mit dem Präsidenten des israelischen Jugendringes CYMI und polnischen Studentenvertretern einen intensiven Dialog zu führen, bei dem alle Seiten immer wieder betonten, dass zu der selbstverständlichen Erinnerung an die grausame Vergangenheit dringend die gemein-same Arbeit für eine bessere Zukunft treten muss.

Von Krakau aus fuhr die Ratsgymnasium-Gruppe am letzten Tag nach Oswiecim, um mit etwas mehr Ruhe eine Führung durch das ehemalige Stammlager Auschwitz I zu machen. Die großen Räume mit den dort aufbewahrten Tausenden von Brillengestellen, Beinprothesen, Koffern, Zahnbürsten, den Tonnen von Haaren, die man den Häftlingen abgeschnitten und an deutsche Firmen verkauft hat, um daraus Textilien oder Teppiche herzustellen, hinterließen bei allen Teilnehmern Eindrücke des Entsetzens.

Internationale Begegnungen

Sprachlos verließ man nach der Begehung der Gaskammer und des Krematoriums 1 außerhalb des eigentlichen Lagers die Stätte des Grauens. Kaum vorstellbar, dass der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höss, täglich ,nach getaner Arbeit’ zurück in die angrenzende Dienstvilla zu seiner Frau und seinen fünf Kindern zurückging, um als liebevoller Familienvater sein ,ganz normales’ Leben zu führen.

Er wurde übrigens 1947 unter falschem Namen in Deutschland entdeckt, in Warschau zum Tode verurteilt und zwischen seiner Villa und der Gaskammer aufgehängt. Ein Besuch der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Oswiecim, einer deutsch-polnischen Einrichtung, die im Wesentlichen auch von der Aktion Sühnezeichen getragen wird, richtete zum Abschluss den Blick eindeutig auf die Zukunft, in der durch internationale Begegnungen von jungen Leuten aus Deutschland, Polen, Israel und anderen Ländern das Hauptanliegen der gesamten Veranstaltung gefördert werden soll: "Never again!"


mt@mt-online.de

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