Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische ,
11.05.2005 :
Subjektive Erinnerung und Geschichtsschreibung als reizvoller Kontrast / Bewegender Abend zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges zwischen lebendigen Zeitzeugen und nüchternen Historikern
Von Klaus Frensing
Spenge. Die meisten Menschen waren einfach nur froh. Am 8. Mai 1945 hatte Nazi-Deutschland bedingungslos kapituliert. Der Zweite Weltkrieg in Europa war endlich beendet. Das Kulturamt der Stadt Spenge hatte zur Erinnerung an diesem Tag zu zwei Veranstaltungen in die Werburg-Scheune eingeladen. Nach der Lesung mit Walter Kempowski gehörte der zweite Themenabend ganz den Spenger Bürgern und vor allem Zeitzeugen.
Trotz des nasskalten Maiwetters hatten sehr viele Menschen den Weg zum Werburg-Ensemble gefunden. Und die verließen den Veranstaltungsort erst knapp drei Stunden später nach einem hochinteressanten Abend. Die beiden jungen Schauspielschüler Katrin Dworatzek und Jonas Theobald aus Hamburg hatten den Abend mit einer szenischen Lesung aus dem Buch von Bärbl Wirrer "Ich glaube an den Führer" eröffnet. Die Spenger Lehrerin hatte vor zwei Jahren Briefe ihrer Eltern aus den Jahren 1942 bis 1945 heraus gegeben, die das Alltagsleben und das Denken vieler junger Leute im nationalsozialistischen Deutschland dokumentieren. Sie werfen ein besonderes Schlaglicht auf die Männer und Frauen, die im Nationalsozialismus groß geworden sind und deren Begeisterungsfähigkeit und Nationalstolz, aber deren Gutgläubigkeit von den Nazis auch skrupellos ausgenutzt wurde. Das junge Paar, Inge und Fred, hatte bis zum Ende fest an den Nationalsozialismus und an den Führer geglaubt und auf den Sieg Deutschlands gehofft.
Dworatzek und vor allem Theobald gelang es, die Hoffnung und Verzweiflung, die Liebe zueinander, die innere Zerrissenheit der beiden Protagonisten den Zuhörern vor Augen zu führen. Diese Briefe voller Sehnsucht und Verlangen rührten wohl jeden an im Publikum, das ganz still geworden war.
Nach dem Krieg gerät ihr Weltbild aus den Fugen. Noch kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner bedauert Inge: "Unser liebes schönes Deutschland, unser ganzes Heldentum, unsere vielen Opfer, alles umsonst!" Als sie wenig später von den Nazi-Greueln erfährt, schreibt sie: "Es ist vielleicht doch besser, dass wir den Krieg verloren haben." Fred wird seit den Kämpfen um Berlin vermisst. Inge hat ihn bis zu ihrem Tod 1989 nicht für tot erklären lassen.
In Kriegsgefangenschaft erlebten Dietrich Korthals und Gerd Meyer zu Düttingdorf das Kriegsende. Mit dem Abstand von einigen Jahrzehnten, aber auch sehr persönlich und damit nicht weniger beeindruckend erzählten sie von ihren Erlebnissen. Im jugendlichen Alter von 18 Jahren waren die beiden Zeitzeugen Soldat geworden. Beide waren an der Ostfront im Einsatz. Damit hörte die Gemeinsamkeit aber auch schon auf.
Während Meyer zu Düttingdorf bereits 1942 in russische Gefangenschaft geriet, erhielt Korthals 1944 den "Heimatschuss". Über Lazarette in Hamburg und Herford kam er zur Ersatztruppe in Detmold und landete 1945 im Ruhrkessel. Der Verband, in dem Korthals als Ordonanzoffizier im Bataillonsstab tätig war, löste sich angesichts der hoffnungslosen Lage Anfang April auf. "Da musste jedem klar sein, der Krieg war verloren", sagte Korthals. Es ging ums nackte Überleben.
In Altena besorgte er sich bei der Schwester einer Spengerin einen Zivilanzug und marschierte fünf Tage lang über Nebenwege nach Hause, nach Spenge. Übernachtet wurde im Wald oder bei Bekannten. Am Abend des 20. April kam er wohlbehalten in Spenge an. Damit war für ihn der Krieg aber noch nicht vorbei. Nach einer Woche zu Hause meldete er sich vorsichtshalber selbst bei den Amerikanern und landete in Kriegs-Gefangenschaft. "Das war eine Hungerkur", klagte Korthals. Das Kriegsende erlebte er dann in Frankreich. Am 6. September kehrte er dann zum zweiten Mal aus dem Krieg heim.
Gerd Meyer Zu Düttingdorf erlebte das Kriegsende in einem Gefangenenlager im östlichen Ural. "Das bedeutete viel Arbeit und Hunger und keine Postverbindung nach Hause", erinnerte er sich. Und der Spenger Landwirt sollte noch gut drei Jahre in russischer Gefangenschaft verbringen. Bereits im Herbst 1945 waren die ersten Gefangenen, Männer die nur noch beschränkt oder gar nicht mehr arbeitsfähig waren, entlassen worden. Unter ihnen befand sich auch ein Soldat aus Häger. Der hat dann zu Hause bei der Familie Meyer zu Düttingdorf, die drei Jahre lang nichts von ihrem Sohn gehört hatte, Bescheid gesagt. Bereits 1946 sollte er entlassen werden, doch der Polit-Kommissar strich ihn von der Liste.
"Für mich ist es weniger ein Tag der Befreiung, als ein Tag der Erinnerung"
Meyer zu Düttingdorf hatte zu sehr an die proklamierte "Freiheit des Wortes" geglaubt. 1948 war es dann aber soweit. Am 6. Juli traf er nach langer Fahrt in Bielefeld ein, wo er von seinem Vater abgeholt wurde. Erst dann war der Krieg zu Ende.
Gerd Meyer zu Düttingdorf hatte in dem Lager auch zur Zwangsarbeit verschleppte Frauen (zwischen 15 und 72 Jahren alt) und Männer (ganz junge oder alte) kennen gelernt. "Die Frauen motivierten uns, wieder etwas aufrechter zu gehen und unsere Sachen besser in Ordnung zu halten", berichtete er zurück blickend mit einem leichten Schmunzeln.
700.000 Menschen seien damals zur Zwangsarbeit verschleppt worden, von denen 200.000 in den Lagern umgekommen seien. So ist für ihn der 8. Mai weniger ein Tag der Befreiung als ein Tag der Erinnerung: "Man muss das einfach stärker differenzieren."
"Die Menschen haben das damals nicht als Befreiung angesehen. Sie waren einfach nur froh, dass der Krieg vorbei war", assistierte Dr. Norbert Sahrhage. Der Spenger Historiker, der heute sein neues Buch vorstellt, referierte über die Zeit des Kriegsendes in Spenge und im Kreis Herford. Den sehr persönlichen Erinnerungen fügte er die wissenschaftlich erhobenen Fakten hinzu. Bereits am 3. April war in Spenge und im benachbarten Enger der Krieg zu Ende gewesen (die NW berichtete ausführlich).
Der Volkssturm hatte sich aufgelöst, die Panzersperren waren beiseite geräumt. Die kämpfende Truppe hat sich östlich der Weser zurück gezogen. Es kam zu keinerlei Kampfhandlungen. Auf der Werther Straße gingen Menschen mit weißen Fahnen den amerikanischen Panzerverbänden entgegen. In Spenge hingen aus vielen Fenstern die weißen Laken. Erste Amtshandlungen der Sieger waren die Verkündigung einer Ausgangssperre sowie das Verbot der Nutzung von Fahrrädern und Autos. Beide Sanktionen wurden aber alsbald gelockert und dann ganz aufgehoben.
Angst und Schrecken in Teilen des Kreises Herford hatten dann während der Nachkriegsmonate allerdings marodierende Banden verbreitet, die sich aus Zwangsarbeitern und Deutschen zusammensetzten. Erst im Frühjahr 1946 mit der Festnahme des Anführers, der zum Tode verurteilt und gehenkt wurde, endete das Rauben und Morden.
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