WebWecker Bielefeld ,
11.05.2005 :
Keine Stunde Null
Von Manfred Horn
Eine Stunde Null hat es in Bielefeld nicht gegeben. In der historischen Rückbetrachtung steht die Kontinuität im Vordergrund. Eine Kontinutität, die allerdings unter veränderten Vorzeichen stattfand. So waren nach April 1945 kaum noch Nationalsozialisten in der Stadt zu finden. Plötzlich wollte niemand mehr dabei gewesen sein, fast jeder konnte sich an eine gute Tat erinnern, die dann schnell als Widerstand gegen die NS-Diktatur ausgelegt wurde.
Die Jahre nach dem Krieg war die Zeit der Persilscheine. Ein System des gegenseitigen Zertifizierens von Unschuld entstand, das nur ein Ziel hatte: Sich oder eine andere Person reinzuwaschen. Bernd Hey, Leiter des Landeskirchlichen Archivs in Bielefeld, nennt ein Beispiel, das repräsentativ für hunderte andere in der Stadt stehen dürfte: Karl Koch, Präses des evangelischen Kirche von Westfalen mit Sitz in Bielefeld und während des Nationalsozialismus Mitglied der Bekennenden Kirche, stellte ausgerechnet Alfred Hugenberg, der mit seiner Deutsch-Nationalen-Volkspartei (DNVP) Hitler den Aufstieg zur Macht mit ermöglichte, einen Persilschein aus. Hugenberg sammelte fleißig Stimmen im nationalkonservativen Lager, er erklärte 1932: "Das parlamentarische System hat versagt." Hey hat den Persilschein im Kirchenarchiv gelesen: "Da schlackert man mit den Ohren. Haben die denn gar nichts gelernt?".
Wolf Kätzner, bis 2000 Leiter des Hauptarchivs Bethel, schildert einen ähnlichen Fall: Der Vorsteher der Diakone der von Bodelschwinghschen Anstalten, Paul Tegtmeyer, stellte nach Kriegsende "dutzendfach" Persilscheine für ehemalige "Volksgenossen" aus.
Nationalsozialismus war also out, die Jugend organisierte sich lieber in Sportvereinen denn in politischen Verbänden. Bereits Mitte 1946 waren wieder ein Viertel der Bielefelder Jugendlichen in 40 Sportvereinen aktiv, aber nur 13 Prozent in parteipolitischen oder kirchlichen Jugendverbänden. "Die Zahlen der kirchlichen und parteipolitischen Vereinsjugend sanken weiter, als nach der Währungsreform von 1948 Jugendveranstaltungen nicht mehr die einzige Möglichkeit boten, endlich einmal satt zu werden", fand Monika Minninger, stellvertretende Leiterin des Stadtarchivs, heraus. Die Bevölkerung zeigte sich an der Oberfläche angesichts ihrer Geschichte lieber unpolitisch – eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte fand so garantiert nicht statt.
Als Bielefelder Bürger am 4. April 1945 auf dem Jahnplatz und heranrollenden US-Amerikanern auf deren Frage: "Wo sind die Nazis", zuriefen, im Bunker in der Holländischen Straße, geschah dies wohl weniger aus Hass gegen die Nationalsozialisten. Vielmehr war es ungeheuer komfortabel zu sagen: "Die waren es, ich aber nicht. Ich bin sogar bereit, die Nazi-Bonzen zu verraten." Der Anfang einer langen Zeit des Verdrängens und Verschweigens.
Die Briten hatten sich allerdings nach 1945 sehr wohl vorgenommen, die Deutschen zu entnazifizieren. Im Rückblick wird jedoch deutlich: Ein Versuch, der weitestgehend scheiterte. Zwar entließen sie rund 100 Bedienstete der Stadt, die meisten wurden nach wenigen Jahren aber wieder eingestellt.
Eine Besonderheit stellten die sogenannten Spruchkammern dar, in denen Nazis abgeurteilt werden sollten. Auch Bielefeld hatte eine. Sie nahm 1947 als eine von sechs solchen Einrichtungen in der britischen Zone ihre Arbeit auf. Von 1949 bis 1956 wickelte sie als letztes Spruchkammer der Zone auch noch die offen gebliebenen Verfahren der anderen Kammern mit ab.
Angeklagt wurden Angehörige der Gestapo, des Reichssicherheitsdienstes, der SS und der NSDAP vom Ortsgruppenleiter aufwärts, soweit man ihrer habhaft werden konnte. Immerhin konnten 4.500 Täter im Lager Eselsheide in der Senne festgehalten und anschließend angeklagt werden. Die Schuldfrage aber ergab sich nicht aus der Täterschaft, sondern allein aus der bloßen Kenntnis von den Verbrechen der genannten Organisationen in Sachen Holocaust, Umgang mit Kriegsgefangenen, politischen Gegnern und Zwangsarbeitern, wie Minninger herausstellt. Schuldig war also, wer trotz des Wissens um die Verbrechen ab September 1939, dem Kriegsbeginn, in den Organisationen blieb.
Eine besondere Schwierigkeit war allerdings, dass die Richter und Schöffen zum größten Teil selbst NSDAP-Mitglieder waren. "Das Spruchgericht hatte zu Zeiten 62 Räume im Bielefelder Gerichtskomplex okkupiert, wo sollten all seine unbelasteten Mitarbeiter herkommen", fragt Minninger. Nach ihrer Recherche bemühten sich nur zwei der Bielefelder Kammern um angemessene Urteile, die bis zu zehn Jahre Haft lauten konnten. Die meisten Verfahren endeten mit geringen Geldstrafen.
Was für die Spruchkammern galt, traf auch auf die Bielefelder Gerichte zu. Kein einziger Bielefelder Richter war bei Kriegsende im Mai 1945 unbelastet, und es gab kaum unbelastete Juristen, die abrufbar gewesen wären. Im Juli 1945 eröffnete das Amtsgericht wieder, im Oktober 1945 das Landgericht, im Oktober 1948 das Schwurgericht. "Selbst die sogenannte Huckepackmethode – dass nämlich auf einen unbelasteten Richter ein belasteter käme, musste fallengelassen werden", sagt Minninger. Ab Juni 1946 wurden bescheinigt entnazifizierte Richter wieder eingestellt, und Anfang der 1950er Jahre durften in Bielefeld sogar ein ehemaliger Staatsanwalt des berüchtigten Volksgerichtshofs und etliche Richter des nicht minder berüchtigten NS-Sondergerichts Bielefeld wieder Recht sprechen, sagt Minninger.
Verwaltung, Bildung, Justiz und Polizei sie alle waren über Jahre, teilweise über Jahrzehnte, dominiert von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Dieser pragmatische Ansatz der britischen Besatzungsmacht, berufliche Kenntnisse höher zu bewerten als die Mentalität und Gesinnung, der später ohne zu Zögern von den Organen der neuen Bundesrepublik übernommen wurde, sicherte in den ersten Jahren nach dem Krieg den staatlichen Alltag. Selbst die SPD, die kurz nach dem Krieg noch vehement gegen NSDAPler in Amt und Würden war, schwieg ab dem Zeitpunkt, wo sie selbst in Regierungen kam. Die KPD als erklärte antifaschistische Partei versank nach Verfolgung und Krieg schnell in der Bedeutungslosigkeit. Entnazifizierung war nur ein oberflächliches Schlagwort, hinter dem sich allerlei Karrieren fortsetzen konnten. Erst die 68er Generation deckte dann auf, was zuvor an der Heimatfront für maximalen Wohlstand verschwiegen wurde: Die personale Kontinuität zwischen der Nazi-Zeit und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, und das nicht nur im Staatsapparat, sondern auch in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen.
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