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Mindener Tageblatt , 10.05.2005 :

Mit 17 zur Wehrmacht / Helmut Oevermann geriet als Minderjähriger in Gefangenschaft

"Gerade waren Bomben auf Minden gefallen, ich fuhr zu dem mir befohlenen Einsatzort Ostbevern bei Münster ... Unsere Aufgaben: Schießübungen und Rodungen im Wald. Ich kam auf die Schreibstube und musste jeden Tag per Fahrrad in das benachbarte Telgte zur vorgesetzten Einheit ...

Nach überstandener RAD Zeit erwartete mich in Minden bereits die Einberufung zur Wehrmacht. Es war ein fließender Übergang, die Einberufungsbehörde hatte da leider eine gute Terminplanung. Mein Marschbefehl gab mir vor, meinen Dienst am 19. März 1945 bei der schweren motorisierten Artillerie in Hamm anzutreten, die in der Panzerjägerkaserne untergebracht war, aber leider musste ich nach einigen Tagen feststellen, dass es leider viele kleine Mitbewohner gab, die mich Tag und Nacht begleiteten.

Auf dem Kasernenhof mussten wir noch völlig unsinnige militärische Marschübungen über uns ergehen lassen. Daran änderte sich auch nichts, als die ersten Granaten auf dem Kasernengelände einschlugen und es dabei Tote und Verletzte gab. Ich wurde auch noch am 25. März einer Nachrichten-Batterie zugewiesen und bekam eine Funker-Sonderausbildung zum späteren Einsatz als vorgeschobenen Beobachter ...

Am 2. April begann ein schweres Artilleriefeuer auf das Kasernengebiet. Nach drei Tagen mussten wir unsere Kaserne vor den anrückenden Amerikanern verlassen. In der Nacht zogen wir unter Mitnahme eines Geschützes Richtung Iserlohn. Geschützführer war übrigens ein Studienrat des Besselgymnasiums.

Der Transport des Geschützes verursachte viel Lärm, so dass wir immer wieder unter Artilleriebeschuss kamen. Bis wir dann einsahen, dass wir auch mit dem Geschütz wohl kaum noch etwas ausrichten konnten, ließen wir es stehen. Unsere Truppe fiel dann auseinander, jeder versuchte, irgendwie weiterzukommen. Am 15. April war dann Schluss. Wir saßen in dem Ruhrkessel fest und marschierten um 20 Uhr mit erhobenen Händen in die Gefangenschaft. Einige hatten sich in kurze Hosen gekleidet, aber das befreite auch nicht von der Gefangenschaft.

Die Nacht vom 15. auf den 16. April verbrachten wir auf dem Sportplatz in Grüne bei Iserlohn ... Die erste Verpflegung nach der Gefangennahme gab es am 17. April. Wir lagen in Brilon auf einer Wiese unter freiem Himmel bei einem erbärmlichen Wetter. Es regnete tagelang. Die Verpflegung war sehr dürftig. Nach meinen Aufzeichnungen gab es eine Mini-Dose Fleisch, vier Plätzchen, vier Milchbonbons, Kaffeepulver, Zucker, Kaugummi und vier Zigaretten. Alle Esswaren konnten nur so gegessen werden, wie sie "geliefert" wurden. Wasser gab es nach stundenlangem Anstehen aus herbeigefahrenen Behältern, die eigentlich für einen anderen Zweck gedacht waren.

Am Sonntag, 22. April, wurden wir auf Sattelschlepper verladen, und in einer halsbrecherischen Fahrt ging es über Warburg, Gießen, Koblenz nach Remagen. Die Fahrt war lebensgefährlich. Auf dem Hänger des Sattelschleppers standen wir wie die Heringe in einer Dose. Die Menschen auf der Straße wussten offenbar von unserem Hunger und meinten es gut, indem sie uns Esswaren, auch ganze Brote, während der Fahrt zuwarfen. Wer da nicht aufpasste, riskierte sein Leben. Bei einem vorausfahrenden Schlepper brach in einer Kurve die Seitenbegrenzung weg, bei dem Sturz in den Graben gab es erhebliche Verletzte.

Natürlich hatten wir gehofft, in Remagen ein Dach über den Kopf zu bekommen. Daran war gar nicht zu denken. Schon Zehntausende Gefangene waren dort auf eingezäunten Wiesen eingesperrt ...

Am 12. Mai, also fast einen Monat nach der Gefangennahme, bekam ich das erste warme Essen aus einer Feldküche. Am Tag darauf gab es dann auch den ersten warmen Kaffee. Inzwischen hatten wir uns mit welchen Hilfsmitteln auch immer, kleine Vertiefungen gegraben, um zumindest dem Wind nicht ständig ausgesetzt zu sein. Ein riesiges Gewitter in der Nacht zum 20. Mai schüttete unsere Erdlöcher randvoll ...

Gewaschen hatten wir uns seit Beginn der Gefangenschaft am 15. April nicht mehr. Entsprechend sahen wir auch aus. In meinem Tagebuch findet sich unter dem 1. Mai der Vermerk: Entlausung. Wir marschierten an einem Landsmann vorbei, der uns aus einer großen "Spritze" das DDT-Pulver an alle Körperstellen besorgte. Anschließend wurden wir zum Baden an die Ahr geführt. Schon auf dem Hinweg machten viele schlapp, das Wasser der Ahr empfanden wir trotz der Kälte als angenehm, aber der Rückweg war unendlich.

Die Amerikaner waren mit den vielen Soldaten, die hier als Gefangene zusammenkamen, völlig überfordert. Entsprechend entwickelte sich der Gesundheitszustand der Gefangenen. Wer sich vom Boden hochrappelte, sah erst einmal schwarz vor den Augen ...

Die Toilette bestand aus einem Graben, der rund um das Lager, natürlich innerhalb der Umzäunung, aufgeworfen war. Wer hinschauen mochte, fand hier auch manchen Geldschein, der allerdings nicht mehr zu benutzen war. Die Todesrate unter den Gefangenen war hoch. Insbesondere Ältere waren betroffen. Nicht selten fand man am Morgen Gefangene, die in der Nacht verstorben waren. Deutlich wird dieses durch den am Ortseingang von Bad Neuenahr angelegten Waldfriedhof für Wehrmachstangehörige. Die Todestage liegen überwiegend im April bis Juni 1945.

Mir kam dann ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Über Megafon wurde nachgefragt: Wer kann Steno, Schreibmaschine und Englisch. Natürlich nichts wie hin. Ich wurde angenommen und gehörte jetzt zu einem Entlassungskommando. Ich hatte Schreibarbeiten zu erledigen, die sich auf die Entlassungen bezogen. Bei dieser Beschäftigung wurde ich natürlich auch besser verpflegt. Es gab warme Mahlzeiten.

Das ging über einige Tage so. Dann wusste ich, wer nach Hause entlassen wurde. Ich meldete mich nicht mehr bei dem Aufruf "Entlassungskommando heraustreten", sondern danach bei dem Aufruf "Jungbauern melden". Ich konnte mit Pferden und mit einer Sense umgehen, konnte eggen und pflügen, ein Hobby was ich mit 16 Jahren betrieben hatte. Allerdings war ich kein Bauer, aber da würde mir sicher was einfallen, einige Adressen hatte ich mir schon zurechtgelegt.

Am 8. Juni 1945 hatte ich es geschafft, ich durchlief die Entlassungszelte und erhielt am 9. Juni den mit meinem Fingerabdruck versehenen D2 Entlassungsschein ... Unsere Gruppe wurde nach Dortmund-Aplerbeck gefahren, dort schliefen wir in einer Schule, nach zwei Monaten wieder ein Dach über dem Kopf. Per Anhalter erreichte ich dann nach zwei Tagen Minden. Meine Angehörigen hatten seit Monaten nichts von mir gehört. Und ich war immer noch 17.


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