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Schaumburger Zeitung , 10.05.2005 :

"Nix wie weg" - mit dem Rad flüchtet er vor dem Krieg / Hans Gehrmann radelt bei Kriegsende von Sonthofen nach Bückeburg / Ein Ausweis des Weltpostvereins hilft

Bückeburg (bus). Hans Gehrmann ist ein durch und durch sattelfester Mann. Der 78-Jährige organisierte etliche Jahre die Touren der Bückeburger Radler. 2001, zum Beispiel, nahm die 1992 von Gehrmann gegründete Gruppe bei 32 Touren insgesamt 1.104 Streckenkilometer unter die Pedale. Noch heute vergeht kaum ein Tag, an dem der Ruheständler nicht aufs Fahrrad steigt und zehn bis 15 Kilometer zurücklegt. Eine wesentlich längere Strecke legte der 1988 pensionierte Pädagoge vor 60 Jahren zurück. "Etwa 750 Kilometer", schätzt Gehrmann, strampelte er vom 30 April bis zum 10. Mai 1945, um von Sonthofen nach Bückeburg zu gelangen.

Damals hatte der vor Berlin verwundete Unteroffizier (Durchschuss im linken Oberschenkel) mit Schrecken das Gerücht von der unmittelbar bevorstehenden Ankunft französischer Truppen in der zum Lazarett umfunktionierten Sonthofener Ordensburg vernommen. "Denen geht kein guter Ruf voraus", wusste der vom "Heimatschuss" leidlich Genesene. "Abhauen, nix wie weg hier und lieber den Amerikanern in die Hände fallen", habe er sich gedacht. Zunächst ging es zu Fuß - ohne Geld, ohne etwas Essbares,aber auch ohne von einer deutschen Patrouille behelligt zu werden - auf eine Bergalm. Durchschnaufen und Klamotten wechseln. Freundliche Bergbauern boten dem Entschlüpften Unterschlupf.

Alsbald bescherte dem 19-Jährigen dessen "Organisationstalent" einen Drahtesel. Der Untersatz verfügte zwar weder über Beleuchtung noch über eine Gangschaltung, war dafür aber hervorragend bereift. "Ich hatte auf der gesamten Strecke nicht einen einzigen Plattfuß", erinnert sich der Berichterstatter. Für sein Alter reichlich abgebrüht, bewegte Gehrmann sich überwiegend auf den Hauptversorgungsstraßen nordwärts.

Zweifelsohne kam dem eine kurze Hose tragenden Burschen sein jugendliches Aussehen zugute. "So ein junger Knabe wird kaum ein richtiger Soldat gewesen sein", hätten die vorrückenden Amerikaner wohl über ihn gedacht. Auch von Vorteil: Ein in deutscher und französischer Sprache ausgestellter Ausweis des Weltpostvereins beeindruckte die Kontrolleure so sehr, dass sie das Geburtsdatum auf der Rückseite nicht in Augenschein nahmen.

Obwohl sechs Jahrzehnte und ein ausgefülltes Leben der über Kempten, Ulm, Würzburg, Kassel und Hameln führenden (Tor-)T(o)ur etliche Schrecken genommen haben, blieben in Gehrmanns Gedächtnis zahlreiche brenzlige Situationen haften. "Mitunter musste ich mich sehr rabiat zur Wehr setzen", gibt der später in Rolfshagen, Hameln und Springe als Rektor beschäftigte Bückeburger ohne Umschweife zu. Nicht vergessen könne er auch eine Begegnung in der Nähe von Kassel, als eine ältere Frau in ihm zunächst ihren Sohn erkannte. "Die hat vor Glück laut geschrieen." Oder dass ein ihm völlig unbekanntes Mädchen ihn vor einem (des Französischen mächtigen - siehe "Postausweis") Belgier gerettet hat.

Zurück im heimatlichen Bückeburg meinte das Schicksal es ebenfalls relativ gut mit dem Fahnenflüchtigen. Die Mutter war behilflich, einen Lazarett-Entlassungsschein zu beschaffen. Der Gang in die Gefangenschaft blieb ihm erspart. "Da kamen allerhand glückliche Fügungen zusammen", blickt der Pedaleur auf das Kriegsende zurück. Gewiss halfen Gehrmann aber auch handwerkliche und geistige Beweglichkeit aufs Lebensfahrrad. Außer Lehrer (bis 1972 in Heeßen) war er Landwirt, Friedhofsgärtner und Bäcker. "Quasi Hofbäcker", unterstreicht der Pensionär. "Nach dem Krieg haben wir in der Hofbäckerei Tag für Tag 1.000 Brötchen für die englischen Besatzungstruppen gebacken."


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