Der Patriot - Lippstädter Zeitung ,
09.05.2005 :
"Sozialer Rassismus unterm Mantel der Wissenschaft" / Westfälische Klinik trägt die Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen gegen psychisch Kranke und geistig Behinderte in den öffentlichen Raum
Eickelborn. Es ist nicht der Ort für eine herkömmliche Gedenkfeier. Zwar stehen Politiker, Bedienstete und Bürger in respektvoller Distanz auf Bordsteinen und Wegen oder fast schon Halt suchend ans Gebüsch gedrängt, die Hände gefaltet, die Gesichtszüge versteinert, während die Klinikleitung einen Kranz niederlegt. Doch ihnen genau gegenüber rauscht das gewöhnliche Leben vorbei, fahren Autos und Motorräder die Eickelbornstraße entlang, unaufhörlich lärmend, die würdige Stille durchbrechend.
Genau dies ist der richtige Ort für zeitgemäßes Gedenken. Hier, neben der Verwaltung der Westfälischen Klinik, hat die Skulptur "Der Gebundene" einen neuen Platz gefunden. 15 Jahre stand sie versteckt im Park hinter dem Sozialzentrum. "Durch die Versetzung", meint Forensik-Chefin Dr. Nahlah Saimeh, "werden Erinnerung und Mahnung dauerhaft öffentlich."
60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges will die Einrichtung damit für jeden Einwohner und jeden Passanten sichtbar die Verstrickung der damaligen "Heil- und Pflegeanstalt" in die nationalsozialistische Politik von Sterilisation und Ermorderung geistig Behinderter und psychisch Kranker kundtun. Mahnmale wie dieses sind "dezentrale Gedenkorte im Umfeld des alltäglichen Lebens", wie der Münsteraner Historiker Prof. Bernd Walter gestern erklärte. Im Rahmen einer Feierstunde im Sozialzentrum anlässlich des Jahrestages der deutschen Kapitulation betonte er ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Umgang mit den Verbrechen der Hitler-Diktatur: "Sie erinnern an den Nationalsozialismus vor Ort und weisen auf die Allgegenwart und Alltäglichkeit des nationalsozialistischen Terrors hin."
Wissenschaftlich sachlich, aber in ihrer Klarheit besonders eindringlich reihte Walter die "brutalen historischen Fakten" aneinander: Schon die "Machtergreifung" durch die Nazis 1933 sei kein kompletter Bruch, sondern durch Kontinuitäten geprägt. "Der politische Wille der nationalsozialistischen Rassenhygieniker traf auf einen weitgehenden eugenischen Konsens in der westfälischen Ärzteschaft, so dass die Politik so gut wie keine Überzeugungsarbeit zu leisten brauchte."
Gleichwohl realisierten die Machthaber ihre Programme über Personalpolitik: 1934 ersetzte der "durch und durch politsch agierende" Dr. Walther Kaldewey Zentrumsmitglied Dr. Carl Hermkes als Anstaltsleiter. In der Folge wurden 470 Patienten zwangssterilisiert. Walter: "Es war praktizierter sozialer Rassismus unter dem Deckmantel von Wissenschaft." Später wurden im Rahmen der Euthanasie massenhaft Patienten zur Vernichtung ins hessische Hadamar verfrachtet. 598 Kranke aus Eickelborner wurden staatlich ermordet.
An der Skulptur vor der Klinik soll bald eine Gedenkplatte die Namen der Opfer dokumentieren und sie damit der Anonymität entreißen. "Der Gebundene" ist ein geschundener Mensch, gefesselt durch eine Art Zwangsjacke. Die Beine sind frei, er kann sich erheben, sich gegen das Schicksal stemmen. Bildhauer Andrzej Irzykowski schöpft daraus Hoffnung: "Bewegung bedeutet Leben."
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