Lippische Landes-Zeitung ,
09.05.2005 :
Gesang über den Schlachtfeldern des Krieges / Zentrale Gedenkfeier anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes mit Brittens "War Requiem" in der Lipperlandhalle
Lemgo (fla). "Am 8. Mai 1945 kapitulierte Deutschland. Eine der schwersten Zeiten in der deutschen Geschichte ging an diesem Tag zu Ende. Eine nicht minder schwere Zeit begann: Millionen Menschen waren auf der Flucht." - 60 Jahre nach Kriegsende erinnerte Landrat Friedel Heuwinkel gestern in der Lipperlandhalle mit eindringlichen Worten an eine Zeit, die bis heute Spuren in den Leben vieler Menschen hinterlassen hat.
60 Jahre sind eine lange Zeit, in der vieles in Vergessenheit gerät. Bei der zentralen Gedenkveranstaltung zum Ende des Zweiten Weltkriegs appellierte deshalb Landessuperintendent Gerrit Noltensmeier an mehr als tausend Menschen, die sich in der Lipperlandhalle eingefunden hatten, "dem Gedächtnisverlust zu wehren. Denn wer das Gedächtnis verliert, der verliert die Orientierung. Wir können gegen das Vergessen angehen, indem wir einander erzählen, wie es damals war. Und wir haben die Möglichkeit, es jetzt nachzuerleben in einem großen Werk, in dem jene Zeit verdichtete und damit uns verpflichtende Gestalt bekommt."
Damit kündigte Noltensmeier Benjamin Brittens "War Requiem" an, eine Totenmesse, "gesungen über den Schlachtfeldern des Krieges". Als Britten, der englische Komponist und erklärte Pazifist, dieses Werk 1961 komponierte, wollte er, der die Schrecken des Zweiten Weltkrieges hautnah miterlebt hatte, eine Botschaft vermitteln: Er verurteilt in diesem Werk den Krieg, ohne eine bestimmte Nation anzuklagen, er wollte sein Requiem als eine völkerverbindende Friedensbotschaft verstanden wissen. Kompositionstechnisch kombinierte er in seinem Werk den Ritus der lateinischen Totenmesse, des Requiems, mit Antikriegsgedichten von Wilfred Owen, der in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs gefallen war.
Seine Uraufführung erlebte das Werk 1962 bei der Einweihung des Neubaus der Kathedrale von Coventry, die 1940 durch einen deutschen Bombenangriff zerstört worden war. Als Zeichen der Versöhnung hatte er als Solisten seinen Freund, den Tenor Peter Pears, den deutschen Bariton Dietrich Fischer-Dieskau und die russische Sopranistin Galina Vishnevskaya vorgesehen. Die Sopranistin erhielt keine Ausreisegenehmigung und wurde dann kurzfristig durch die Engländerin Heather Harper ersetzt. Dieser Vorgabe folgte auch der künstlerische Leiter der Aufführung in Lemgo, Rainer Homburg. Als Solisten hatte er den deutschen Bariton Markus Krause, den irischen Tenor Paul Mc Namara und die aus Polen stammende Sopranistin Barbara Dobrzanska verpflichten können - und damit einen Glücksgriff getan. Mit mehr Empathie - vor allem, was die Männerstimmen betrifft, die ausschließlich die Lyrik Wilfred Owens singen, während die Sopranistin den lateinischen Requiem-Text intoniert - kann man dieses Werk nicht singen.
Brittens Musik will nicht einfach konsumiert, sondern nach-gedacht werden, soll auch nicht in erster Linie gefallen, sondern aufrütteln. Die nicht eben leichte Aufgabe, die Britten den Ausführenden stellt, meisterten alle Beteiligten großartig. Rainer Johannes Homburg hatte drei Chöre, nämlich die Marien-Kantorei Lemgo, den Städtischen Musikverein Gütersloh und den Kammerchor der evangelisch-reformierten Kirche in Warschau zu einer mahnenden Stimme verschmolzen, hielt bei den zahlreichen musikalischen Klippen, die Chor und Orchester zu umschiffen haben, beide umsichtig zusammen, wobei sich die Nordwestdeutsche Philharmonie, die hier im großen Orchester und in einem Kammerorchester auftrat, das Prof. Karl-Heinz Bloemeke dirigierte, einmal mehr als großartiger Begleiter erwies.
Eine dritte Klangebene im Raum, der durch Betonträger, die in die im Umbau befindliche Halle hineinragten, eine zwar etwas seltsame, aber gar nicht so unpassende Anmutung bekam, schufen die Kinderchöre der Choralsingschule Gütersloh, der Singschule der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Bad Salzuflen und der Mittelstufenchor des Engelbert-Kämpfer-Gymnasiums Lemgo unter Leitung von Sigmund Bothmann.
Nach einer bewegenden Aufführung, die gekonnt die Balance zwischen Pathos, Erschütterung und Trauer hielt, gab es minutenlang stehende Ovationen für alle Ausführenden.
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