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Mindener Tageblatt , 07.05.2005 :

"Wenn wir nur am Leben bleiben ... " / Aus dem Brief an einen 15-jährigen Sohn

Minden (mt). Es gibt in diesen Wochen und Monaten, in denen der 60. Wiederkehr des Ende des Zweiten Weltkrieges gedacht wird, viele Erinnerungen von Zeitzeugen, die in den Medien jeglicher Art veröffentlicht werden. Vielfach sind es Reminiszenzen von so genannten Prominenten, die das Ende des Krieges im In- oder Ausland erlebten.

Von Heinz Wähler

Wir geben hier den Brief einer schlichten Mindener Bürgerin wieder, die anonym bleiben soll, obwohl sie vor wenigen Jahren verstorben ist, der ein typisches Beispiel der Leidensfähigkeit eines gemeinen Menschen jener Tage zwischen Gewalt und Hoffnung widerspiegelt.

Einige Vorbemerkungen sind notwendig: Frau H., geboren im Jahre 1907, ist ein Mindener Kind einer Handwerkerfamilie aus der Innenstadt. Sie war 35 Jahre alt, als ihr Mann in Russland fiel. Zu der Zeit hatte sie vier Kinder im Alter zwischen zwei und 13 Jahren. Sie kehrte mit ihnen nach Minden in die Nähe ihres Elternhauses und ihrer Geschwister zurück. Der Kriegerwitwe wurde eine Wohnung in einem Haus in der Heidestraße zugewiesen, das der im KZ ermordeten jüdischen Mindener Familie Weiß gehörte und beschlagnahmt worden war.

An die Westfront zum Bau von Panzergräben

Hier nun setzt der Brief ein, den sie am 8. November 1944 an ihren ältesten Sohn schrieb, der als Schüler mit 15 Jahren an die Westfront zum Bau von Panzergräben geschickt worden war. Einige Passagen aus diesem Brief haben wir gestrichen, einige andere bedurften der näheren Erläuterung, die wir als redaktionelle Anmerkung in Klammern gesetzt haben:

"Mein Lieber Junge!

Heute erhielt ich drei Briefe von Dir auf einmal ... Ich hatte schon lange keine Nachricht mehr von Dir, Na, bis dahin ist es Dir gut gegangen und ich will hoffen, dass es Dir auch jetzt noch gut geht. Wir sind alle noch am Leben, aber die dauernden Angriffe auf Minden machen einen vollkommen fertig. Heute war wieder einer ... Ja, mein Junge, Du kennst die Heidestraße nicht wieder, so schlimm sieht es jetzt da aus. Überall große Bombentrichter, die bis an den Rand mit Wasser gefüllt sind. Wir sind ohne Wasser, ohne Licht und Gas.

Ich schreibe den Brief von Tante M. aus. Heute Nachmittag bin ich mit den Kindern für einige Zeit zu ihr gezogen. In meiner Wohnung halte ich es nicht mehr aus. Die Fenster sind kaputt und der Sturm heult hindurch. F.s Haus sieht ganz fürchterlich aus ... Bei L. ist ein Volltreffer hinters Haus gegangen. K.s Haus ist ganz weg. Frau K., G. und M. (ihre Kinder) haben sie unter den Trümmern hervorgeholt."

Am 9. November besonders Angst

"Wir gehen hier bei Tante M. (am westlichen Stadtrand) nicht in den Keller. Sowie Alarm kommt, gehen wir weit ins Feld hinaus ... Morgen, zum 9. November (Wiederkehr der berüchtigten "Reichskristallnacht" mit Übergriffen auf jüdisches Leben) haben wir besonders Angst und gehen morgen früh schon nach `Mutter Krückemeier` (ehemaliges Gasthaus - "hier können Familien Kaffee kochen" - im Häverstädter Berg). Dort ist im Berg ein Stollen, der sicher ist (ehemaliges Bergwerk). Mir ist ja alles egal, wenn wir nur am Leben bleiben und Du gesund zurückkommst. Dass Du aber noch vier Wochen weg bleibst, ist ja allerhand. Mittlerweile ist dann ja schon Weihnachten.

Meine Kohlen und Kartoffeln habe ich immer noch nicht. Dein Päckchen ist auch nicht angekommen. Ich würde mich ja doch ärgern, wenn andere sich das gut schmecken ließen. Wer wäscht denn Eure Wäsche? Ich will sehen, dass ich Dir in der nächsten Woche nochmals ein Päckchen fertig mache ... Also nochmals viele Grüße und bleib gesund, Deine Mutter".

Das stille Leiden der Kriegerwitwe aus Minden sollte auch nach der Rückkehr ihres Sohnes von der Westfront nicht zu Ende sein: Nach dem Einzug der Briten in Minden gehörte die Heidestraße auf Jahre zum mit Stacheldraht umzäunten militärischen Sperrgebiet. Sie musste mit ihren vier Kindern und einigen Habseligkeiten im Handgepäck das Haus in kurzer Zeit räumen.

Tod bei Unfall mit Straßenbahn

Ein Jahr später verlor sie ihren ältesten Sohn, der bis dahin Vaters Stelle in der Familie eingenommen hatte, bei einem Unfall mit der Mindener Straßenbahn. Nun lag es an der damals 14-jährigen ältesten Tochter, in den schweren Nachkriegshungerjahren durch Hamsterfahrten über das Mindener Land das Überleben der Familie mit zu sichern.

07./08.05.2005
mt@mt-online.de

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