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Mindener Tageblatt , 07.05.2005 :

Jedes Opfer stand vor seinem Scherbenhaufen / "Zerstört - besetzt - befreit": Dr. Hans Nordsiek hält im großen Rathaussaal Festvortrag zum Kriegsende 1945 in Minden

Minden (mt). Vor 60 Jahren, Anfang Mai 1945, ist der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende gegangen. Aus diesem Anlass und zum Gedenken hatte die Stadt Minden zu einem Vortrag Dr. Hans Nordsieks ins Rathaus eingeladen.

Von Jürgen Langenkämper

Mehr als 300 Zuhörer konnte Bürgermeister Michael Buhre am Mittwochabend im großen Rathaussaal begrüßen. "Befreit gefühlt haben sich zunächst wohl nur die Opfer des Faschismus, soweit sie selbst überlebt haben", griff er den Titel des Vortrags "Zerstört - besetzt - befreit. Minden 1945" auf und beleuchtete damit schon eingangs die Stimmungslage vieler Deutscher im ersten Moment des Kriegsendes. 60 Jahre nach Kriegsende sei die Beschäftigung mit jener Zeit aber "intensiver und vielschichtiger denn je".

Aus eigener Erfahrung führte der Bürgermeister die Eindrücke beim Betrachten der Fernsehserie "Holocaust" Ende der 70er-Jahre an. "Die Opfer bekamen plötzlich ein Gesicht." Der "kollektive Verarbeitungsprozess", der seither in neuer Form in Gang kam, sei "keineswegs abgeschlossen".

"Vor 60 Jahren", so Buhre in seiner Überleitung an Dr. Nordsiek, dem er Pionierleistung bei der historischen Aufarbeitung des Kriegsendes in Minden zusprach, "hätten wir hier im Freien gesessen". Denn das Rathaus war seit dem 28. März 1944 zerbombt und ausgebrannt, der große Rathaussaal, erst Mitte der 50er-Jahre wieder aufgebaut, ein Produkt der Nachkriegszeit, ein sehr zwiespältiges noch dazu: Mit der Planung hatte die damalige Stadtverwaltung paradoxerweise den Architekten des von den Nationalsozialisten genutzten Reichssportfeldes und des propagandistisch eingesetzten Olympiastadions, Werner March, einen Schüler Albert Speers, beauftragt.

Nordsiek resümierte seine historischen Forschungen, die auch die Grundlage für einen wesentlichen Teil der seit März laufenden Serie im Mindener Tageblatt bildeten. Er kontrastierte die lokalen Entwicklungen mit überörtlichen Ereignissen. So verkündete der letzte intakte, noch nicht besetzte Sender Flensburg des Reichsrundfunks genau 60 Jahre zuvor, am 4. Mai 1945: "Der Kampf um die Reichshauptstadt ist beendet." Doch selbst in seinen allerletzten Tagen verschwieg die Propaganda der Überreste des NS-Regimes, dass die bedingungslose Kapitulation des von der Roten Armee eroberten Berlin bereits zwei Tage früher, am 2. Mai, in Kraft getreten war.

Nordsiek wertete den für das Stadtbild schwersten Luftangriff am 28. März 1945 als den "Anfang vom Ende" des Krieges für Minden. Der zehn Jahre später geführten Diskussion über den Sinn oder Zweck dieses Bombardements hielt er das militärische Kalkül der Alliierten angesichts hoher eigener Verluste entgegen. Dabei entging die Stadt sogar noch ihrer völligen Zerstörung durch den schon geplanten Einsatz von 300 B 17-Bomber der US Air Force nur durch das Glück der vorzeitigen Besetzung durch kanadische Eliteeinheiten am 4. April 1945. Der Historiker rief dabei auch in Erinnerung, dass wichtige Infrastruktureinrichtungen wie Brücken und Vorratsmagazine von Wehrmachts- und SS-Einheiten zerstört wurden.

Auch nach der Unterzeichnung der bedingungslosen Kapitulation am 7. Mai im Westen und am 8. Mai im Osten ging der Krieg im Pazifik weiter. Die letzte Reichsregierung amtierte noch bis zum 23. Mai 1945. Und: "Die Beendigung des Kriegszustandes durch die Westalliierten erfolgte erst am 9. Juli 1951", klärte Nordsiek zur nicht geringen Überraschung vieler Zuhörer auf.

Der Bilanz der Kriegsopfer in der Stadt, allein 260 durch Luftangriffe seit Ende 1943, vervollständigte der Historiker die Nennung jener Gruppen, die bereits zuvor von den Nationalsozialisten verfolgt, in KZs gesperrt und ermordet worden waren, darunter mindestens 180 Mindener jüdischen Glaubens sowie Sinti, Zeugen Jehovas, Behinderte und politisch Andersdenkende.

Trotzdem habe bei Kriegsende niemand Mittäter gewesen sein wollen. "Man fühlte sich als Opfer, als erste Opfer Hitlers, die seit 1939 von ihm zum Werkzeug von Eroberung und Unterdrückung gemacht worden waren, gezwungenermaßen oder durch Verführung", so Nordsiek. "Jedes Opfer stand vor seinem eigenen Scherbenhaufen."

Zahlreich drängten sich die Zuhörer nach dem Vortrag, um ihr druckfrisches Exemplar von Nordsieks Bestseller "Die verdunkelte Stadt. Minden 1944/45" vom Autor signieren zu lassen. Rund 80 Bücher des im J. C. C. Bruns nachgedruckten Werkes wurde an diesem Abend verkauft. Für 150 weitere lagen bereits vor Auslieferung Bestellungen der Buchhandlungen vor, so dass bereits nahezu die Hälfte des Nachdrucks schon jetzt wissbegierige Leser findet.

Nordsieks Nachfolgerin an der Spitze des Kommunalarchivs, Dr. Monika Schulte, kündigte das Bestreben an, Zeitzeugen dazu aufzurufen, ihre Erinnerungen an jene historischen Momente schriftlich zu fixieren und für künftige Generationen im Archiv zu deponieren.

07./08.05.2005
mt@mt-online.de

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