Deister- und Weserzeitung ,
05.05.2005 :
"Ich hab` sagenhaftes Glück gehabt" / Gerhardt Brandt erinnert sich ans Kriegsende und den langen Weg nach Hause
Von Wolfhard F. Truchseß
Hameln. Ein Glückskind in schweren Kriegszeiten war Gerhardt Brandt. Nach dem Abitur wurde der damals 17-Jährige 1942 eingezogen und erhielt eine Ausbildung zum Horch- und Peilfunker. Das war für ihn von Vorteil, weil diese Truppe grundsätzlich hinter den Frontlinien stationiert war und keine Kampfhandlungenerlebte. Den Winter 1943/44 verbrachte Brandt in Russland. "Danach waren wir nur noch auf dem Rückzug." Polen, Rumänien und Ungarn waren die Stationen des Hamelner Arztsohnes, bis ihn eine Hepatitis erwischte, die er in Prag ausheilte und zur Rehabilitation, wie man das heute nennt, nach Bunzlau geschickt wurde. Sein Heimweg nach Hameln war gleichermaßen von Glück und Trauer geprägt.
Das Kriegsende erlebte Gerhardt Brandt am 4. Mai in Ebersteinburg nördlich von Baden-Baden. Untergebracht in Privatquartieren, habe er es damals "recht gut gehabt", erinnert sich der inzwischen 80-Jährige. Und er hatte einen "verständnisvollen" Kompaniechef, der an besagtem Tag seine Truppe auflöste und die Männer samt Wehrpass mit dem Hinweis "Schaut zu, wie ihr nach Hause kommt" aus der Wehrmacht entließ. Was tun?, war damals die Frage. Die Alliierten waren in der Nähe. Also machte sich eine aus sieben Mann bestehende Gruppe gemeinsam auf den Weg und zog sich zunächst in die nahe gelegenen Berge zurück. Eine Hütte wurde geknackt und die dort gelagerten Konserven geplündert. In Grainbach am Samerberg, Brandt kann sich an die Namen noch genau erinnern, fanden sich hilfreiche Bauern, bei denen die Militärklamotten gegen Zivilkleidung getauscht wurden. Brandt: "Die waren außerordentlich nett und meinten: `Bleibt doch noch ein paar Tage, bis sich die Lage beruhigt hat.`"
Nach dem Tag der Kapitulation aber beschloss die Gruppe, sich den Amerikanern zu stellen. Und hatte auch dabei Glück: Ein amerikanischer Offizier ließ sie nicht nur laufen, sondern stellte Brandt und den anderen Dokumente aus, auf denen im Fall des Hamelners mit Unterschrift und Stempel stand: "This man Gerd Brandt has been in this headquarter." Mit diesen "Pässen" konnte die kleine Gruppe in den nächstenTagen amerikanische Kontrollstellen passieren.
Zu Fuß ging es zunächst über München an den Chiemsee. Weshalb er diese Richtung nahm, weiß Brandt heute nicht mehr. Vermutlich, weil die Gruppe einfach zusammenhielt. In jugendlichem Leichtsinn wird der Chiemsee in einem Boot gequert. "Wir wollten uns die Insel Herrenchiemsee ansehen." Nur war die amerikanisches Sperrgebiet. Und wieder haben die jungen Männer Glück. Die Amerikaner belassen es bei einer Verwarnung.
Nächste Station ist Bad Aibling. Dort gibt es ein großes Lager mit Displaced Persons. Brandt glaubt sich zu erinnern, dass es vor allem von russischen Zwangsarbeitern belegt war. Bei denen tauschte er seine Uhr - "sie hatte 15 Steine" - gegen ein Goericke-Fahrrad und machte sich nun allein auf in Richtung Hameln. "Die Bevölkerung", so berichtet er, "war überall sehr hilfreich. Und der Wehrpass, den uns der Kompaniechef ausgehändigt hatte, half überall als Legitimation. Trotzdem hab` ich in dieser Zeit einfach sagenhaftes Glück gehabt, nicht in Gefangenschaft zu geraten."
Auf seinem Heimweg meidet Brandt die großen Straßen, lässt sich von Bauern Tipps geben, wo und wie Militärkontrollen zu umgehen sind und landet eines Abends in dem fränkischen Dörfchen Junkersdorf. Auf einem kleinen Bauernhof erhält er Quartier, vom Haus nebenan schauen zwei hübsche Mädchen, Zwillinge, vorbei. Sie stammen aus dem Raum Würzburg und waren als Erntehelferinnen eingesetzt. Als später aus dem Nachbarhaus Klaviermusik erklingt, hält es Brandt nicht mehr. Schließlich stand in seinem Elternhaus auch ein Flügel. Brandt geht nach nebenan und das Unvermeidliche geschieht. Gerhardt Brandt lernt seine spätere Frau Lilly kennen.
Das Glücksgefühl des jungen Mannes wird aber bald von schlechten Nachrichten überlagert. Bei einem Onkel, der ihn in Göttingen beherbergt, erfährt er, dass sein Vater in Hameln, er war praktischer Arzt und hatte auch die Zuchthausinsassen medizinisch zu versorgen, unter unwürdigen Umständen im Lazarett in der Linsingenkaserne ums Leben gekommen war. Brandt: "Man hatte ihn für die schrecklichen Zustände im Zuchthaus verantwortlich gemacht. Aber was hätte er tun sollen? Er wollte die Missstände immer wieder anprangern. Aber dazu kam es nicht mehr."
Lesen Sie morgen: Die Proklamation der Kapitulation.
05./06.05.2005
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