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Bünder Tageblatt / Neue Westfälische , 05.05.2005 :

Wenn die Erinnerung streikt / Alfred Spiegel besucht Geschichts-Leistungskurs am Freiherr-vom-Stein Gymnasium

Von Tobias Heyer

Bünde. Hin und wieder stockt die Stimme von Alfred Spiegel, dann wird er still, ringt mit den Tränen. "Manchmal bin ich etwas emotional", entschuldigt sich Spiegel bei den Schülern des Geschichte-Leistungskurses, die den Erzählungen gestern gebannt zuhörten.

Zum vierten Mal besucht der Amerikaner seine alte Heimat und nutzt die Zeit, um im Freiherr-vom-Stein Gymnasium die Zeit des Nationalsozialismus transparenter zu machen. "Nächstes Jahr feiern wir ein kleines Jubiläum", hat er sich vorgenommen.

"In der Schule wurde ich manchmal so verhauen, dass ich es zu Fuß nicht mehr bis nach Hause geschafft habe", berichtet Alfred Spiegel, der mit neun Jahren 1939 Bünde mit dem Zug in Richtung Belgien verließ. "Da sind an der Grenze die SS-Männer durch den Zug gerannt und haben geschrien, dass alle Juden sofort den Zug verlassen sollten", blieb er mit seiner Familie trotzdem sitzen.

Staunend hörten sich die Jugendlichen an, wie Spiegel es schaffte, Antwerpen und das Schiff nach Amerika zu erreichen. "Als wir ablegten, wurde am Hafen gerade die belgische gegen die Nazifahnen ausgewechselt", so der Zeitzeuge.

Norbert Sahrhage, der gerade seine Doktorarbeit geschrieben hat, in der er auch die Geschichte Spiegels verarbeitete, konnte zusammen mit Schulleiterin Dr. Claudia Langer und der Lehrerin Tanja Nehring zuvor den Gast im Gymnasium begrüßen. Zum vierten Mal verweilt er für fünf Tage bei seinem Freund Horst Menke in Bünde.

"Das ist jetzt meine zweite Familie", freut sich Spiegel, der sich nach den schlimmen Erlebnissen eigentlich vorgenommen hatte, nie wieder deutschen Boden zu betreten, über die enge Freundschaft zwischen ihm und Horst Menke. "Wir sprechen zwar nicht dieselbe Sprache, verstehen uns aber prächtig", lacht Spiegel, der dann doch in einer Mixtur aus Englisch und Deutsch vorträgt.

Anfangs sind die Jugendlichen schüchtern, zieren sich, Fragen zu stellen. Doch Spiegel trägt sein Herz auf der Zunge, fordert die Neugierigen und erzählt seine Geschichte. "That’s my life" schließt er, nachdem die Schüler erfahren haben, dass er 15 Verwandte zurücklassen musste. "Von denen hat keiner überlebt", so die schreckliche Bilanz.

Auf die Frage nach seiner Kindheit in Bünde findet er nicht immer eine Antwort. "Manchmal, da möchte man sich nicht erinnern", zuckt Alfred Spiegel mit den Schultern und blickt durch die große Brille auf die Tischplatte. Dann wieder schießt es aus ihm heraus. Wenn er zählt, wie er in Amerika hart, sehr hart arbeiten musste, um sich einen Start zu ermöglichen. "Merken sie sich das, wenn man im Leben viel schafft, dann ist man auch erfolgreich", schreibt er den Schülern ins Gedächtnis.

Auf die Frage, ob er heute stolz sei, ein Amerikaner zu sein, gibt Alfred Spiegel eine entwaffnende Antwort. "Als wir damals mit dem Boot in den USA ankamen, sahen wir als erstes die Freiheitsstatue, da haben wir alle geweint." Und auch heute küsse er jedesmal, wenn er von Reisen zurück nach Amerika komme, den heimatlichen Boden.

Das war ganz anders, als er vor fünf Jahren zum ersten Mal wieder deutschen Boden betrat. "Da war ich sehr nervös, habe gezittert wie Espenlaub." Gewagt hat er es dennoch, zurückzukehren. Seine Schwester hat hingegen mit der Vergangenheit abgeschlossen, spricht kein einziges deutsches Wort mehr, würde nie zurückkommen. "Aber das hier, dass ist eine andere Generation, die hat damit nichts zu tun", so Spiegel.

05./06.05.2005
lok-red.buende@neue-westfaelische.de

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