Tageblatt für Enger und Spenge / Neue Westfälische ,
04.05.2005 :
Von einem rettenden Versprecher / NW-Serie zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs: Christa Beine erinnert sich
Enger. Ältere Frauen und Männer aus Enger und Spenge haben zum Teil noch ganz konkrete Erinnerungen an die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges. Sie sind überwiegend bedrückend und traurig, aber sie handeln oft auch von Hoffnung und dem großen Glück, dass der Krieg vorüber war. Manchmal gibt es sogar ein wenig (unfreiwillige) Komik, wie in den folgenden Erinnerungen von Christa Beine aus Pödinghausen.
Es war in der Mittagszeit an einem Tag im April 1945. Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht von Haus zu Haus: Amerikanische Soldaten sind im Dorf, machen Razzia. Sie suchen desertierte, versprengte, versteckte deutsche Soldaten, die in Zivilkleidung ihre Heimatorte erreichen wollten oder hier in der Gegend zu Hause waren.
Eigentlich waren bisher im Kreis Herford keine Kampfhandlungen gewesen. Nur am Weserdurchbruch an der Porta hatte es besonders heftige Gefechte gegeben. Dort auf dem Jakobsberg hatten sich deutsche Soldaten verschanzt und die im Berginneren weit verzweigten Stollen und das ganze Areal verteidigt – bis zum Tode.
Bei der Übermacht der Amerikaner waren viele junge Soldaten im April 1945 gefallen. Davon zeugen auf den dortigen Gemeindefriedhöfen die vielen Kreuze mit den Zeichen *1925 – †April 1945. Die Amerikaner hatten Deutschland ja schon längst überrollt, als man zur eigenen Sicherheit (Partisanen) im Hinterland Razzien durchführte. Dazu diente wohl auch die amerikanische Suchaktion hier bei uns im ländlichen Raum in Pödinghausen.
Es war wohl gut, draußen auf die Soldaten zu warten, also stand ich mit meinen Eltern vor der Haustür und wagte mich neugierig ein paar Schritte vor. Ein Fahrzeug sicherte das Ende unserer Straße am Bahnbogen ab, ein anderes kontrollierte und blockierte die Abzweigung in den Wald (heute Forstkuhle). Ein Jeep patroullierte dazwischen auf und ab. Damals gab es hier nur acht Häuser, einfach, bescheiden, ohne Balkon oder andere Anbauten. Hinterm Haus hatte man zum Teil kleine Schuppen für Schubkarre, Handwagen, Fahrräder oder Hühner. Auf der anderen Straßenseite breitete sich mehr als heute nur Wald aus und unserem Haus gegenüber war dichter Tannenwald.
Hier durchkämmten Soldaten mit ihrer MP im Anschlag jedes Buschwerk oder Tannendickicht, sie blieben auch hier in gewissem Abstand zur Deckung und zur Bewachung in Alarmbereitschaft.
Dann näherten sich drei Soldaten, die schon das Eckhaus am Bahnbogen und das nächste kontrolliert hatten, meinem Elternhaus. Ein Sergeant kam schnurstracks auf mich zu, deutete auf das weiße Tuch, das im offenen Fensterflügel aufgehängt war, und fragte auf Englisch: "What’s that? A flag, a white flag?" Verdattert antwortete ich: "No!" "Oh, you speak English?"
Wie die weiße Fahne im Fensterkreuz plötzlich zu einem Küchentuch wurde
Das hatte man wohl nicht erwartet. Er fragte weiter hartnäckig: "What’s about the flag?" – "No. It is a kitchen cloth (Küchentuch). It is wet. My mother dried the dishes." Etwas Englisch brachte ich also zustande und der Sergeant fragte neugierig weiter.
Der Einfachheit halber und zum besseren Verständnis schreibe ich die Befragung zum Teil in Deutsch auf. "Schulenglisch?" "Yes." "Deine Eltern?" "Yes." "Vater im Krieg verwundet?" "Yes." "Hat er ein Gewehr?" "Yes, no, ein Luftgewehr (rifle). Er musste es auf dem Amt abgeben." "Bruder oder Onkel im Haus?" "No." "Hast du einen Bruder?" "Yes, he was on a ship. Now perhaps in prison in France."
"Versteckt sich nicht hier im Wald?" "No." Die Soldaten glaubten mir, gingen auch nicht ins Haus. Wir atmeten erleichtert auf. Nun kontrollierte man die Nachbarfamilie, die vor ihrem Haus wartete. Dort gab es wohl Verständigungsprobleme und damit auch Verdächtigungen: Man hielt den zirka 30 Jahre alten Sohn Friedrich für einen "verkappten" Soldaten, fragte nach seiner Uniform, nach seinen Papieren.
Friedrich konnte wohl Bescheinigungen vorzeigen. Man wurde aber nicht schlau daraus. Ein Soldbuch oder einen Wehrpass besaß er nicht, denn er war kein Soldat gewesen. Die Befragung spitzte sich zu. Man winkte mich rüber, wollte wissen, warum er kein Soldat war. "Why not?" Immer wieder: "Why not?" Ich übersetzte, dass er schlecht sehen könne, dass er kranke Augen habe. Doch diese Begründungen glaubte man nicht.
Der Sergeant bohrte weiter nach Uniform und Gewehr. Ich blieb bei meiner Antwort: "He is no soldier." Schließlich sagte ich ganz mitleidig: "He is nearly blind. Er ist fast blind." Der Sergeant schüttelte den Kopf, sah nach dem nahen Jeep hinüber, mit dem der Nachbar Friedrich abtransportiert werden sollte. Die Situation spitzte sich zu.
In dem Moment versuchte ich eine letzte Chance: "Er kann nicht mal Vögel schießen", war mir eingefallen. Vor lauter Aufregung sagte ich aber: "He cannot even sheet birds." Die Amerikaner stutzten, brachen urplötzlich in ein befreiendes, herzhaft-menschliches Gelächter aus und ein Soldat kugelte sich vor Lachen im Gras. Der Sergeant winkte ab – und erst dann wurde mir klar, dass ich eine Vokabel verwechselt hatte: sheet statt shoot. Shoot heißt schießen. Sheet wie "Schiht" ausgesprochen, hat die Bedeutung wie das Wort in der norddeutschen Umgangssprache.
Das Verhör löste sich auf amerikanischer Seite in lautem Gelächter auf. Man zog weiter zum nächsten Nachbarn. Ich hielt mir beschämt den Mund zu und schließlich atmeten wir alle erleichtert auf, als uns klar wurde, dass ich zwar über eine einzige Vokabel gestolpert war, aber ein Joke (Spaß) dabei herausgekommen und Nachbar Friedrich vor weiteren Strapazen gerettet war.
Im anderen Nachbarhaus nahm man ohne Umschweife den 17-jährigen in Bielefeld ausgebombten Gerd fest. Man verfrachtete ihn unten an der Straße auf einen Lastwagen und weg war er.
Der patroullierende Jeepfahrer gab mir im Vorbeikommen eine kleine Tafel Cadburry Schokolade, wohl für meinen Übersetzerdienst.
Obwohl ich Heißhunger auf Süßigkeiten hatte, habe ich die Schokolade nicht eher angerührt, das heißt, gegessen, als bis der Gerd von nebenan nach drei Tagen aus dem Registrier-Sammellager hinter Bielefeld entlassen und zu Fuß, aber frei, wieder bei uns zu Hause angekommen war.
Mein Vater meinte später: "Es ist doch gut, wenn man Fremdsprachen lernt. Die lernt man durch ständiges Üben von Vokabeln, im Einsatz von Frage und Antwort. So lernt man auch, mit Fremden zu sprechen und miteinander zu leben. Wenn wir Menschen nicht mehr miteinander sprechen, verlieren wir unsere Menschlichkeit."
lok-red.enger@neue-westfaelische.de
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