Deister- und Weserzeitung ,
03.05.2005 :
Kein Angeklagter fand Worte des Bedauerns / Die juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen / 200 Todesurteile wurden in Hameln vollstreckt
Von Bernhard Gelderblom
Hameln. Im Oktober 1943 hatten Roosevelt, Stalin und Churchill die Grundsätze einer gerichtlichen Ahndung der NS-Kriegsverbrechen festgelegt. Für die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher kündigten sie ein internationales Tribunal an. Der Nürnberger Prozess vom Herbst 1945 war das erste "Weltgericht" der Menschheitsgeschichte. Er sollte der Welt das grauenhafte Ausmaß der NS-Verbrechen vor Augen führen. Ziel des Prozesses war also nicht nur die Bestrafung der Täter, sondern ebenso die Dokumentation der Barbarei wie die Vorbeugung gegen das Vergessen und Verdrängen.
Juristisch konnte sich der Prozess auf die Haager Landkriegsordnung von 1907 und die Genfer Konvention von 1929 stützen, nach denen Kriegsverbrechen zu bestrafen waren. Aber wie sollte man mit diesen Rechtsinstrumenten den Judenmord bestrafen, dessen Planung und Vorbereitung noch in Friedenszeiten fiel? Wie sollte man die für die Menschenmorde verantwortlichen "Schreibtischtäter" bestrafen?
Auf Drängen der Amerikaner wurden neben Kriegsverbrechen auch Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit zur Anklage gebracht und damit neue Rechtsinstrumente eingeführt. Das Verbrechen gegen den Frieden, also die Strafbarkeit der Planung eines Angriffskrieges, war damals als nachträgliche Rechtssetzung sehr umstritten. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass der Nürnberger Prozess der wichtigste Schritt auf dem Weg zur Einrichtung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag war, vor dem gegenwärtig die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien verhandelt werden.
Die Briten verurteilten im Unterschied zu Nürnberg allein Kriegsverbrechen, die an Nicht-Deutschen verübt worden waren. Vergehen von Deutschen an Deutschen überließen sie der deutschen Gerichtsbarkeit. Der erste und zugleich wichtigste der britischen Prozesse hatte die Verbrechen im KZ Bergen-Belsen zum Gegenstand. Dort waren wegen Seuchen und Unterernährung in den letzten vier Kriegsmonaten rund 35.000 Menschen ums Leben gekommen. Noch nach der Befreiung starben 14.000 Menschen. Die von britischen Kameraleuten festgehaltenen Bilder der Leichenberge, die mit Bulldozern in Massengräber geschafft wurden, lösten in der ganzen Welt ein tiefes Erschrecken aus.
Die Briten standen unter starkem Druck der Weltöffentlichkeit. Der Ruf nach einer schnellen Bestrafung der Täter war weltweit. Der erste (von drei) Prozessen begann Mitte September 1945 in Lüneburg. Mit 45 Männern und Frauen war nur ein kleiner Teil der Wachmannschaften angeklagt. Im Verfahren verharmlosten die Angeklagten ihre Verbrechen. Der berüchtigte SS-Scharführer Heinrich Redehase sagte: "Ich habe auch manchmal schlagen müssen und habe dabei mit den Händen, einem Stock oder einem Schlauch geschlagen oder auch getreten; einen richtigen Gummiknüppel habe ich benutzt. Die von mir Geschlagenen haben nie irgendwelche Verletzungen davon getragen."
Andere wie Irma Grese hatten nur ihre Pflicht getan. "Doch man wird nicht den Triumph haben, dass ich mich auch nur einen Finger breit erniedrige. Denn ich erfüllte für mein Vaterland meine Pflicht!" Irma Grese war zeitweilig Aufseherin des Frauenstraflagers in Auschwitz. Sie wurde als die schlimmste Frau des ganzen Lagers beschrieben. Ihre Spezialität war es, abgerichtete Hunde auf wehrlose Menschen zu hetzen.
Beide Zitate sind typisch für das Selbstbild der meisten NS-Täter. Sie sind "Verbrecher mit gutem Gewissen", die sich hinter Schlagwörtern wie Treue, Stolz und Ordnung verstecken. Nur aus Pflicht, Zwang oder Gehorsam wollen sie gehandelt haben. Niemand von den Angeklagten trat auf und sagte: "Herr Zeuge, Frau Zeuge, was damals geschehen ist, war furchtbar und tut mir schrecklich leid." Die Welt hätte aufgeatmet; aber solche Worte sind nicht gefallen.
Am 17. November 1945, zwei Monate nach Beginn des Prozesses, wurden die Urteile verkündet. Elf von 45 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, darunter Irma Grese und der Kommandant Josef Kramer, 14 wurden freigesprochen, die übrigen erhielten Haftstrafen.
Die zum Tode Verurteilten wurden nach Hameln verlegt, um dort hingerichtet zu werden. Irma Grese hielt ihre stolze Haltung bis zur Hinrichtung durch. Ungerührt soll sie am 13. Dezember 1945 um 10 Uhr zum Galgen gegangen sein. Als Kommandant Josef Kramer wenige Tage vor der Hinrichtung zusammenbrach, soll sie ihn angeschrieen haben: "Nimm das nicht so ernst. Du weißt doch, dass der Tag kommen wird, an dem es einen Josef-Kramer-Platz und eine Irma-Grese-Straße geben wird."
Als Henker fungierte Albert Pierrepoint, der Chefhenker der britischen Krone. Pierrepoint wurde für jeden Exekutionstermin extra eingeflogen. Zwanzig Mal kam er 1945 bis 1949 nach Hameln und vollstreckte 200 Todesurteile. Die Verurteilten wurden wenige Tage vor der Vollstreckung nach Hameln gebracht.
Was hat die Öffentlichkeit von den Hinrichtungen wahrgenommen? Wenn die Verurteilten in Hameln waren, wurden die Wachen um das Zuchthaus verstärkt, der Fußweg an der Weser war geschlossen. Der Termin der Hinrichtungen wurde im "Anzeigenaushang der Militärregierung" angekündigt. Die Militärbehörde soll anfangs sogar Sammelfahrten für Bürger aus der Umgebung organisiert haben, "die in kleinen Gruppen den Hinrichtungen beiwohnen" mussten.
Die Hoffnung der Briten, dass durch die Prozesse ein Selbstreinigungseffekt sich in der Tätergesellschaft einstellen würde, sollte trügen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der Wunsch groß, möglichst schnell zu vergessen. Es gab keine Verarbeitung der Niederlage und gar des Nationalsozialismus. Die Menschen sahen sich durch die große Not genügend bestraft.
Dieöffentliche Meinung sah in den Urteilen der alliierten Gerichte Machtdemonstrationen der Sieger und tat die Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen als Gräuelpropaganda ab. Das politische Klima in der frühen Bundesrepublik war von einer weitgehenden Schuldabwehr bestimmt. Man hatte nichts gewusst, geschweige denn etwas getan. Im totalitären NS-Staat hatte es nur wenige Verantwortliche gegeben; alle übrigen waren Mitläufer oder Menschen, die unter Zwang gehandelt hatten. Die Selbstentlastung funktionierte perfekt: Die Deutschen waren zuerst Opfer Hitlers, dann der Alliierten geworden.
Die Justizbehörden waren um eine juristische Verfolgung der Verbrechen der NS-Zeit alles andere als bemüht. Mit Hilfe der Gerichte wurden Täter in Gehilfen verwandelt, die unter Befehlsnotstand gestanden hatten. Die von den Alliierten zu Haftstrafen verurteilen Kriegsverbrecher wurden in der Regel vorzeitig aus der Haft entlassen. Deutsche Gerichte, die seit 1950 für die Aburteilung von NS-Verbrechen verantwortlich waren, haben das KZ nie zum Gegenstand einer Hauptverhandlung gemacht.
In den 50er Jahren hatten die Deutschen ihren Frieden mit den Tätern gemacht. Ralf Giordano spricht rückblickend für dieses Verhalten von der "zweiten Schuld".
Lesen Sie morgen: Sagenhaftes Glück gehabt.
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