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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land , 03.04.2020 :

"Es ist alles vorbei"

1.000 Jahre sollte es währen, das Dritte Reich / Nach zwölf Jahren war es vorbei / Vor 75 Jahren endeten das Regime und der Zweite Weltkrieg / Daran erinnert die NW im 5. Teil ihrer Serie

Manfred Steinmann, Geschichtskreis Espelkamp

Espelkamp / Rahden. Am 8. Mai 1945 ging der Zweite Weltkrieg, in dem etwa 60 Millionen Menschen den Tod fanden, mit der Befreiung durch die Alliierten zu Ende. Nach zwölf Jahren Unterdrückung und Mord, Terror und Krieg durch die Diktatur der Nationalsozialisten endete das "Dritte Reich" mit der bedingungslosen Kapitulation. Für die Menschen im Lübbecker Land zwischen Wiehengebirge und Stemweder Berg begann bereits am Abend des 4. April 1945 die Nachkriegszeit.

An diesem Tag, an dem Mittwoch nach dem Osterfest, rückten Einheiten des 8. Armeekorps der 2. Britischen Armee, von Westen kommend, in das Lübbecker Land vor. Das nahende Kriegsende hatte sich schon seit längerem angekündigt. Trotz der Durchhalteparolen in den gleichgeschalteten deutschen Medien (Radio, Presse) - eine Wunderwaffe werde das Kriegsgeschick zugunsten Deutschlands wenden - vertrauten viele Menschen den Informationen von BBC London mehr als der Berliner Propaganda.

Man sah auf den Straßen versprengte deutsche Einheiten zu Fuß von Westen kommend Richtung Weser ziehen. Man traf Vorsorge: In vielen Gärten brannten kleine Feuer, es waren die Hitler-Bilder, Hakenkreuz-Fahnen und NS-Literatur, die vernichtet wurden. Im Dunkeln vergrub man Wertsachen, Lebensmittel, alles was einem lieb und teuer war. Auf den Feldern pflanzten Bauern noch schnell Kartoffeln, sie wollten die Beschlagnahme des Saatgutes durch britische Truppen verhindern. Aus dem gleichen Grund wurden in Rahden am zweiten Ostertag die Vorräte der Mühlen und der Molkerei an die Bevölkerung verteilt.

Die Ängste und Sorgen in der Bevölkerung wären noch um ein Vielfaches größer gewesen, hätte man das ganze Ausmaß der Bedrohung erkannt, das von der Munitionsanstalt (Muna) in Espelkamp ausging. In über hundert Hallen und Bunkern lag hunderttausendfach der Tod in Gestalt von Munition aller Art, darunter auch Kampfstoffmunition: Granaten und Minen mit den chemischen Kampfstoffen Lost, Phosgen, Clark und dem damals weltweit gefährlichsten Nervengift "Grünring III" - Tabun. Nach Johannes Preuss’ Buch zur "Heeresmunitionsanstalt Lübbecke" - so der offizielle Name der Muna - umfasste der Gesamtmunitionsbestand etwa 18.700 Tonnen, davon 11.200 Tonnen Kampfstoffmunition sowie 7.500 Tonnen andere Munition und Munitionsteile (S. 313).

Evakuierung bis in den Harz war vorgesehen

Bei einem gezielten Bombenangriff beziehungsweise einer Gasexplosion musste mit einer räumlich ausgedehnten Umweltkatastrophe in den Bereichen Boden, Wasser und Luft gerechnet werden. Wie groß man sie sich vorstellte, geht aus der Tatsache hervor, dass eine Evakuierung bis in den Harz für die Menschen der umliegenden Orte vorgesehen war.

Zum Glück erfolgte nie ein solcher Bombenangriff auf die Muna. Nur einmal, kurz vor Kriegsende, am 25. März 1945 (Palmsonntag), warfen zwei Jagdbomber Bomben über der Muna ab. Dabei wurde das Werkstattgebäude der Muna-Fahrbereitschaft vollständig zerstört (heute steht dort das Mehrfamilienhaus an der Gubener Straße). Wahrscheinlich handelte es sich um einen Notabwurf. Menschen kamen nicht zu Schaden.

Am 4. Februar 1945 erfolgte ein Führerbefehl, wonach Kampfstoffe und Kampfmunition nicht in Feindeshand fallen durften und ein rechtzeitiger Abtransport sichergestellt werden sollte. Ferner waren alle Zerstörungen und Sprengungen, auch bei Gefahr im Verzug, verboten.

Wilhelm Döding, damals wohnhaft in Rahden, wurde nach einer schweren Erkrankung an der Ostfront als Av-Soldat (= "arbeitsverwendungsfähig", jedoch nicht kriegstauglich) 1941 in die Muna versetzt als Personalchef und Spieß der Feuerwerker. Er berichtet: "Gemäß dem Führerbefehl wurden am 2. und 3. April vier Güterzüge mit Kampfstoffmunition beladen und drei davon in Marsch gesetzt. Der vierte Zug stand noch bei dem Einmarsch der britischen Truppen auf dem Anschlussgleis im Muna-Gelände (heute Bereich In der Tütenbeke). Er wurde von der alliierten Luftaufklärung am 25. April 1945 erfasst."

Am 28. März 1945 hatte nach Angaben Dödings der Kommandant der Muna, Major Küppers, eine Krisensitzung einberufen, an der der Landrat, der stellvertretende Kreisleiter der NSDAP und ein Wehrmachtsführungsoffizier teilnahmen. Es wurde beschlossen, die Muna kampflos zu übergeben und gemäß dem Führerbefehl auf Sprengung zu verzichten wegen der enormen Gefährdung sowohl von Zivilpersonen als auch Soldaten beider Seiten.

Danach setzte ein Auflösungsprozess ein. Die Arbeiten wurden eingestellt, Offiziere und Soldaten, die zur Wachmannschaft gehörten, verließen die Muna. Auch die Bedienungsmannschaft der Flakstellung (Vierlingsflak), die zum Schutz der Muna gegen Tiefflieger auf einem Wiesengelände am heutigen Neuen Weg stationiert war, hatte samt Gerät den Rückzug angetreten.

Der Auflösungsprozess erfasste auch das westlich der Muna errichtete Barackenlager, später "Kolonie" genannt. Hier wurde das Wehrertüchtigungslager der Hitlerjugend am 3. April aufgelöst und die Jugendlichen nach Hause geschickt; das SS-Ausbildungsbataillon setzte sich am 3. April über Rahden nach Nordosten ab; die Wachsoldaten verließen das russische Gefangenenlager. Die nun "befreiten Russen" wurden später in ein Sammellager nach Osnabrück gebracht und von dort in die Sowjetunion geschickt.

Akten und Unterlagen im Kesselhaus verbrannt

Die letzte Aufgabe Dödings bestand darin, die gesamten Akten und Unterlagen im großen Kesselhaus zu verbrennen. Als er am frühen Nachmittag Vollzug meldete, verabschiedete sich der Kommandant der Muna, Major Küpers, mit den Worten: "Es ist alles vorbei".

Major Küppers wurde in Frotheim von britischen Soldaten gefangen genommen, Wilhelm Döding verließ als letzter die Muna und konnte sich über Neben- und Schleichwege nach Hause (Rahden) retten. Der Vormarsch der britischen Truppen verlief im Süden des Lübbecker Landes ohne große Kampfhandlungen. Über die Reichsstraße 65 erreichten die britischen Truppen am 3. April Pr. Oldendorf und am 4. April gegen Mittag Lübbecke.

Auch der Vormarsch der britischen Truppen über Gestringen und Isenstedt / Frotheim Richtung Minden verlief ohne Kampfhandlungen. "Eigentlich war es ja kein Einmarsch, sondern eher ein Durchmarsch der Engländer", kommentierte ein Zeitzeuge das Geschehen. Die Kanalbrücke (heute B 239) war am späten Vormittag durch eine Pioniergruppe gesprengt worden. Die benachbarte Eisenbahnbrücke blieb intakt.

Ganz anders die Situation in Levern. Die Einheiten der Waffen-SS waren am Tage vorher abgezogen worden und als ein zusammengewürfeltes deutsches Bataillon - bestehend aus jungen schlecht ausgebildeten Soldaten - die britische Panzerkolonne mit Maschinengewehrfeuer empfing und ein Engländer in der Turmluke seines Panzers tödlich getroffen wurde, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Levern wurde förmlich zusammengeschossen. Die traurige Bilanz: Sechs Zivilisten, zehn deutsche und fünf britische Soldaten fanden den Tod. 54 Gebäude brannten im Amt Levern ab.

Gegen 15 Uhr erreichten die britischen Truppen Rahden von zwei Seiten, eine Panzer-Gruppe von der Sudriede, die zweite von der Osnabrücker Straße. Der Autor erlebte als Siebenjähriger den Einmarsch im Keller des Nachbarn (Tierarzt Westerhaus).

Heftige Feuergefechte am Kirchplatz in Rahden

Die vereinzelten deutschen Infanterietruppen mit ihren vier Tiger-Panzern, die wegen ihres geringen Treibstoffvorrates nur bedingt einsatzfähig waren, hatten der erdrückenden Überlegenheit nicht viel entgegen zu setzen und zogen sich ins Dorfinnere zurück. Hier wurde bei heftigen Feuergefechten am Kirchplatz ein deutscher Panzer in Brand geschossen, ebenso etliche Häuser (zum Beispiel Gut Hohenfelde, das Geschäftshaus Koch). Gegen 18 Uhr schwiegen die Waffen und die britischen Truppen setzten ihren Vormarsch Richtung Weser über Wehe und Tonnenheide fort.

Noch während der Kampfhandlungen in Rahden erreichte die britische Einheit "3. Royal Tanks" gegen 17.30 Uhr die Muna und hat diese verlassen vorgefunden, wie im "War diary" (Kriegstagebuch) der Einheit berichtet wird. Nach Aussagen von Zeitzeugen (Karl Nolting und Ernst Fleitmann aus der Altgemeinde) kam diese Einheit am Gasthaus "Waldfrieden" zum Stehen. Der damalige Muna-Arzt Dr. Lingner, der später bis zu seinem Tod in Espelkamp praktiziert hat, soll durch Hissen einer Rot-Kreuz-Fahne die Kolonne zum Stoppen veranlasst haben und dabei die kampflose Übergabe der Muna deklariert haben. Kurze Zeit später sei die Einheit in Richtung Rahden zurückgekehrt.

Die Behauptung, die britischen Truppen seien zunächst an der Muna vorbeigefahren, ohne zu merken, was sich da im Walde verbarg, gehört in den Bereich der Fantasie, zumal die alliierte Luftaufklärung bereits am 4. August 1944 die Muna erfasst hatte. In den Tagen nach dem 4. April wurde das Muna-Gelände von den Briten inspiziert. Dabei fanden sie zum ersten Mal auf dem liegen gebliebenen Zug Grünring III-Granaten mit dem tödlichen Nervengas Tabun.

Am Abend des 4. April erreichten die britischen Truppen die Kreis- und Landesgrenze, wobei es zu keinen nennenswerten Kampfhandlungen mehr kam. Für die Menschen im Lübbecker Land war damit der Krieg beendet, aber die Folgen und Auswirkungen dieses Krieges führten in Espelkamp zu tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderungen.

Bildunterschrift: Dieses undatierte Foto zeigt einen Appell vor dem Hauptgebäude der Heeresmunitionsanstalt Espelkamp. Heute ist das Gebäude Teil des Steil-Hofes.

Bildunterschrift: Die Ausschnittvergrößerung des Luftbildes vom 25. April 1945 zeigt den vorderen Teil des Zuges, der auf dem Anschlussgleis stehen geblieben war. Die Güterwagen waren mit Grünring III-Granaten mit Tabun-Füllung beladen.

Bildunterschrift: In fünf Munitionsarbeitshäusern wurde an Arbeitstischen und Transportbändern die Munition schussfertig gemacht.

Bildunterschrift: In 91 Hallen unterschiedlicher Größe wurde Munition mit und ohne chemischen Kampfstoff gelagert.

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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land, 02.04.2020:

Briten übernahmen das Kommando

1.000 Jahre sollte es währen, das Dritte Reich / Nach zwölf Jahren war es vorbei / Vor 75 Jahren endeten das Regime und der Zweite Weltkrieg / Daran erinnert die NW im vierten Teil ihrer Serie

Ingrun Waschneck

Lübbecke. An den 4. April 1945 erinnert sich Herbert Biermann noch genauso, als sei es gestern gewesen. "Als mein Onkel Paul und ich hörten, dass die Amerikaner kommen, sind wir auf die Anhöhe zum Gallenkamp im Wiehen gelaufen und haben zugesehen, wie amerikanische Mannschaftswagen und Panzer von Stockhausen über die Alsweder Straße auf Lübbecke zurollten." Sie beobachteten die herannahende Kolonne. Nachdem keine Schüsse zu hören gewesen seien, trauten sie sich zurück. "Als 15-Jähriger ist man natürlich neugierig und so bin ich in die Stadt gegangen", erzählt der 89-Jährige. "Die Fahrzeuge fuhren langsam durch die Straßen in Richtung Nettelstedt und Eilhausen."

"Staat im Staat" entstand in der Lübbecker Innenstadt

Kurz darauf seien die Briten gekommen und die Stadt wurde ihnen kampflos übergeben. Sie beschlagnahmten öffentliche Gebäude und Wohnungen. "Vom Sparkassen-Gebäude bis zur Obernfelder Allee und in nördlicher Richtung bis zum heutigen Finanzamt entstand ein Staat im Staat", so Biermann. Das ganze Gelände sei mit Stacheldraht eingezäunt gewesen.

"Allmählich übernahmen sie das Kommando", berichtet er. "Überall in der Stadt hingen Anschläge. Auf denen stand, dass man nur bis 18 Uhr unterwegs sein durfte." Einmal sei es für ihn jedoch brenzlig geworden. "Im August hatten Freunde und ich die Möglichkeit, auf einem englischen Lkw bis kurz vors Steinhuder Meer mitzufahren", erzählt Biermann.

Nach einer Bootsfahrt hätten sie sich auf den Heimweg gemacht. Das sei jedoch ziemlich schwierig gewesen. Mit Bus und Bahn erreichten sie Löhne. "Hier war aber Endstation für uns und die 18 Kilometer zurück nach Lübbecke mussten wir zu Fuß laufen", erinnert er sich. "Auf den sechsten Glockenschlag der Kirchturmuhr hatten wir es geschafft und waren Zuhause."

Weitere Erlasse folgten. "Wir mussten die Lebensmittel, die wir uns mühsam besorgt hatte, an die Engländer weitergeben." Er sei der Älteste von drei Kindern in der Familie gewesen und habe, da sein Vater im Krieg war, viel organisiert.

"Einmal haben wir erfahren, dass es am Hafen kostenlos Getreide gab", berichtet Biermann. "Wir gingen mit 20, 30 Leuten zum landwirtschaftlichen Betrieb beim Posthof, liehen uns einen Leiterwagen, zogen ihn zum Hafen und, bis oben voll beladen mit Zwei-Zentner-Säcken, wieder zurück." Als er mit dem schweren Getreidesack auf den Schultern nach Hause kam, hätte seine Mutter ob des Gewichtes "die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen". Biermann erinnert sich daran, dass "Lübbecke voll mit Flüchtlingen war. Wer keinen Kontakt oder Verwandte hier hatte, wurde von den Engländern in Busse gesetzt und ins Ruhrgebiet, aus dem viele Ausgebombte evakuiert waren, zurückgebracht."

Auch das Stadtbild hatte sich nach der Übernahme durch die Briten verändert. "Es waren viele Uniformierte zu sehen, große Fahrzeuge wie der Dodge fuhren durch die Straßen." Und an noch etwas kann er sich lebhaft erinnern: "In einem Gebiet, in dem die englischen Armeesoldaten wohnten, standen deren Ehefrauen vormittags im Morgenmantel und mit Lockenwicklern auf dem Kopf vor ihren Haustüren und unterhielten sich mit ihren Nachbarinnen. So hätte sich meine Mutter nie gezeigt."

Nach Kriegsende sei sein bisheriges Leben, dass zunächst noch durch Schulbesuch und später fünf Jahre in der Hitlerjugend eine Struktur hatte, weggebrochen. "Wir hatten keinen Dienst mehr und die Schulen wurden anderweitig benutzt", beschreibt er die Zeit. "Wir Jugendlichen waren viel auf der Straße, trafen uns manchmal in der Alten Schule am Markt."

An Beschäftigung hätte es nicht gemangelt. Ein Höhepunkt war, als ein Junge einen Filmprojektor aufgetan hatte. "Wir sahen "Dick und Doof"-Filme und haben uns bestens amüsiert", erzählt Biermann schmunzelnd. Das Kino habe sowieso eine große Rolle damals gespielt. "Ein- bis zweimal pro Woche waren wir im Kino und wenn wir nicht reinkamen, sind wir einfach über den Balkon geklettert."

Munitionskisten wurden zu Blumenhockern

Nachdem die Briten gemerkt hätten, dass Ruhe und Frieden eingekehrt waren, stellten sie auch Deutsche ein. "Viele Frauen waren als Köchinnen oder Putzfrauen tätig, mein Onkel hatte einen Job im Polizeidienst bekommen."

Allmählich normalisierte sich das Leben, der Schulbetrieb ging wieder los und in der Langen Straße arbeiteten wieder viele Handwerker in ihren kleinen Geschäften. "Jeder versuchte, etwas zu machen", sagt Biermann. Der Vater eines Freundes sei Tischler gewesen, der aus Munitionskisten Blumenhocker gebaut habe. "Die hab ich dann blau, grün und rot angepinselt und 20 Pfennig dafür bekommen", weiß er noch.

Nachdem sein Vater im August 1945 aus dem Krieg zurückgekehrt war, begann Herbert Biermann im elterlichen Betrieb eine dreijährige Ausbildung zum Polsterer.

Etwas, das schon in den Vorkriegsjahren passiert sei, habe sein Leben entscheidend geprägt. "Ich habe mit acht Jahren gesehen, wie 1938 die Lübbecker Synagoge brannte. So lebte ich in meiner Kindheit in einer Zeit des aufblühenden Antisemitismus - heute schon wieder."

Bildunterschrift: Dieses Foto aus dem Jahr 1929 zeigt die Neue Apotheke (Ohly) an der Langen Straße in Lübbecke. An der Langen Straße gab es auch viele Handwerker.

Bildunterschrift: Die große Leidenschaft von Herbert Biermann ist das Recherchieren und Schreiben von geschichtlichen Themen. "Wer die Wurzeln nicht kennt, kann den Baum nicht verstehen", sagt er.

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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land, 01.04.2020:

Als der Krieg zum Alltag wurde

1.000 Jahre sollte es währen, das Dritte Reich / Nach zwölf Jahren war es vorbei / Vor 75 Jahren endeten das Regime und der Zweite Weltkrieg / Daran erinnert die NW im dritten Teil ihrer Serie

Joern Spreen-Ledebur

Lübbecker Land. Es war ein Bau, in dem die Nazis ihre Ideologie weitergeben wollten. Im damaligen Landkreis Lübbecke muss es bei vielen Menschen so etwas wie einen gewissen Stolz gegeben haben, dass die Nazis im damaligen Gau Westfalen-Nord eine Gau-Schulungsburg in Lübbecke bauen ließen.

Viele Bürger leisteten Arbeitsstunden oder Geldspenden, als oberhalb des Lübbecker Schützenplatzes 1938 die Arbeiten für die Gau-Schulungsburg der Nazis begannen. Architekt war der Lübbecker Heinrich Bünemann. Er war kein Freund von Nazi-Kreisleiter Ernst Meiring.

Johannes Bergmann aus Pr. Ströhen kann sich an den Bau der Anlage hoch oben über Lübbecke am Kamm des Wiehengebirges erinnern. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen besuchte Bergmann die damalige Berufsschule des Landkreises Lübbecke unweit des Bahnhofes. Für einen Tag seien die Schüler abkommandiert worden und mussten beim Ausschachten der Fundamente helfen, berichtete Bergmann im Juni vorigen Jahres.

"Sie waren stolz, dieses Haus zu haben"

Rund 180.000 Reichsmark kostete der Bau, der am 11. Juni 1939 eingeweiht wurde - wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Zwei Drittel der Bausumme gab es als Spenden von den Bürgern aus Lübbecke und Umgebung. So hat es Heather Rendell herausgefunden, die im britischen Church House arbeitete und sich mit dessen Historie befasste. "Sie waren stolz, dieses Haus zu haben."

Die Hakenkreuz-Fahne flatterte vor der Gau-Schulungsburg, die am 11. Juni 1939 von Gauleiter Alfred Meyer, Kreisleiter Ernst Meiring und anderen Nazis mit dem damals üblichen Pathos eingeweiht wurde. Seit dem 4. April 1945 wehte hier der britische Union Jack, bis er im Juni vorigen Jahres eingeholt wurde.

Oppendorfer Dorfkern bei Bomberabsturz zerstört

Heinrich Bünemann habe Orte bauen wollen, an denen sich junge Menschen in Schulen zu Hause fühlten, erinnert sich die Tochter Margrit Haghnazarian-Bünemann. Sie war im Juni vorigen Jahres Ehrengast in diesem Haus, das von den Briten zuletzt als Church House genutzt wurde.

Wie das Verhältnis zwischen ihrem Vater und dem nationalsozialistischen Kreisleiter Meiring war? "Mein Vater hatte immer Schwierigkeiten mit Meiring", sagte Margrit Haghnazarian-Bünemann vorigen Juni im Gespräch mit der NW. Angesichts der schlechten Versorgung von Zwangsarbeitern im Betrieb habe ihr Vater die Verpflegung selbst übernommen. Der Kreisleiter habe ihren Vater bei Kriegsende noch zum Volkssturm schicken wollen.

Mit der NS-Herrschaft verbunden ist auch Espelkamp. Die heutige Stadt entwickelte sich aus einer Heeresmunitionsanstalt. Sie wurde zur Heimat vieler Menschen, die wegen des 1939 von Nazi-Deutschland entfesselten Krieges ihre Heimat verlieren sollten.

Espelkamp war keine normale Muna, wie historische Untersuchungen ergaben. Espelkamp zählte zu den zehn wichtigsten Rüstungsanlagen für chemische Kampfstoffe im damaligen Deutschen Reich, in denen chemische Kampfstoffe abgefüllt werden sollten.

Espelkamp zählte zu den wichtigsten Rüstungsanlagen

Anders als über Jahrzehnte von den Offiziellen aus dem Espelkamper Rathaus behauptet, war die Füllanlage betriebsbereit. Professor Johannes Preuß von der Uni Mainz fand bei seinen Untersuchungen sogar ein Bild dazu. Anders als in Espelkamps bayerischer Schwesterstadt Waldkraiburg (Landkreis Mühldorf am Inn) ist die Geschichte von Zwangsarbeitern in der Muna Espelkamp kaum bis gar nicht dokumentiert. Auf dem Rahdener Friedhof erinnert ein Stein mit kyrillischer Inschrift an sowjetische Gefangene, die 1942 und 1943 in der Muna ums Leben kamen.

Am Abend des 16. Dezember 1943 kam der Krieg nach Oppendorf. Ein britischer Bomber war abgeschossen worden und stürzte auf den Dorfkern. Das Flugzeug war mit einer 1.800 Kilogramm schweren Luftmine und mehreren 100 Brandbomben bewaffnet.

Durch den Absturz und die Explosion wurden die Brandbomben über das ganze Dorf verteilt - 19 Gehöfte wurden total zerstört, etliche beschädigt. Acht Menschen fanden dabei den Tod: die Oppendorfer Christoph Kalkhake und Heinrich Wäring und sechs Besatzungsmitglieder des Bombers. Viele andere wurden verletzt, zum Teil schwer. Viele Tiere wurden getötet.

Auch nach der Zerstörung Oppendorfs flogen die Bomberverbände über den Landkreis, ihre Ziele waren Hannover, Magdeburg, Berlin und andere Städte. Im Lübbecker Land fielen Bomben in einigen Orten, Flieger stürzten ab, unter anderem auch auf dem Feld unweit des Gutes Obernfelde in Lübbecke.

Kreisleiter Ernst Meiring, zeitweise auch Bürgermeister der Stadt Lübbecke, gab weiter den Ton an. Immer mehr Männer kehrten nicht von der Front zurück.

Als im Dezember 1943 Mensch und Tier in Oppendorf starben, sollte es noch knapp eineinhalb Jahre dauern, bis der Krieg am 8. Mai 1945 mit der deutschen Kapitulation endlich endete. Der 4. April 1945 erschien im Lübbecker Land noch weit weg.

Bildunterschrift: Die Bäume überstanden das Unglück, aber der Hof Wilhelm Kokemoor, Oppendorf Nr. 109, wurde beim Bomberabsturz im Dezember 1943 zerstört.

Bildunterschrift: In Rahden gab es am 4. April ebenfalls Kämpfe. Bevor die Briten die Bahnhofstraße und den Bahnhof erreichten, mussten sie deutschen Widerstand in der Sudriede und am Alten Markt überwinden.

Bildunterschrift: Am Church House in Lübbecke, der früheren Gau-Schulungsburg der Nazis, erinnern noch heute Details an unselige Zeiten. Heather Rendell kennt die Geschichte des Hauses.

Bildunterschrift: Das Gebäude südlich der Beuthener Straße wurde von der Wehrmacht errichtet und diente als Heizzentrale für die Muna Espelkamp. Einige Meter Gleise liegen noch. Später war es Gießerei. Die Gauselmann-Gruppe erwarb das Gebäude, sanierte es und nutzt es heute als Veranstaltungszentrum.

Bildunterschrift: Ein Stein mit kyrillischer Inschrift erinnert an sowjetische Zwangsarbeiter, die 1942 und 1943 in der Muna Espelkamp starben. Der Stein auf dem Rahdener Friedhof, der die Namen der Toten in lateinischen Buchstaben nennt, wurde nach Angaben des Rahdener Stadtheimatpfleger Claus-Dieter Brüning erst viele Jahre später auf private Initiative hin aufgestellt.

Bildunterschrift: Auch im Februar 2003 untersuchte der Professor Johannes Preuß von der Uni Mainz die ehemalige Muna Espelkamp. Der Altlasten-Experte legte unterirdische Versorgungsschächte frei. Hinweise, dass in Espelkamp auch chemische Kampfstoffe abgefüllt wurden, fand Preuß nicht. Anders als über Jahrzehnte behauptet war die Füllanlage aber sehr wohl betriebsbereit.

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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land, 01.04.2020:

Als der Krieg zum Alltag wurde

Rahden. 1.000 Jahre sollte das Dritte Reich währen. Nach zwölf Jahren war es vorbei. Vor 75 Jahren endeten das Regime und der Zweite Weltkrieg. Daran erinnert die NW in einer Serie.

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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land, 31.03.2020:

Der alltägliche Terror der Nazis

Ein Schreiben der NS-Kreisleitung aus Lübbecke an die Oberbauerschafter Hebamme Anna Alhorn macht deutlich, welcher Druck auf Menschen ausgeübt wurde / Daran erinnert die NW im 2. Teil ihrer Serie

Christine Honermeyer

Hüllhorst. Nach der Machtübernahme im Januar 1933 saßen die Nazis schnell fest im Sattel. Das war auch im damaligen Landkreis Lübbecke so. Ein Schreiben der NS-Kreisleitung aus Lübbecke an die Oberbauerschafter Hebamme Anna Alhorn macht deutlich, welcher Druck auf Menschen ausgeübt wurde. Melissa Muncaster machte auf die Geschichte aufmerksam. Waltraud Hölscher (geborene Alhorn) stellte Unterlagen und ein Foto zur Verfügung.

Nazis drohten mit "den schärfsten Mitteln"

Im Jahre 1910, am 18. März, gaben sich der Heuerling Heinrich Alhorn und die Zigarrenarbeiterin Anna Salzmann aus Wulferdingsen in der Kirche zu Oberbauerschaft das Jawort. Heinrich Alhorn war 1886 in Oberbauerschaft bei Nr. 2 (Holzmeier) geboren worden und arbeitete dort. Zwischen 1913 und 1917 hat er das Haus Oberbauerschaft Nr. 134 (heute Beendorfer Straße) gekauft und war Neubauer, sprich Landwirt.

Seine Frau Anna machte eine Ausbildung als Hebamme in Paderborn. Diese schloss sie am 19. September 1912 erfolgreich ab. Ab wann sie genau in Oberbauerschaft als Hebamme tätig war, konnte noch nicht ermittelt werden. Am 26. September 1923 erhielt sie jedenfalls die Niederlassungsgenehmigung als Hebamme für Oberbauerschaft und Büttendorf. Ob das eine erneute Genehmigung war oder die erste, ist unbekannt.

In der Zeit von 1913 bis 1923 hat sie sechs Kinder geboren. Am 18. Juni 1919 gebar sie Zwillinge. Die kleinen Mädchen waren zu früh gekommen. Der herbeigerufene Arzt sagte ihr, "das erledigt der Herrgott", und war schnell wieder verschwunden. Er sagte auch, sie solle sich keine Mühe machen, sie durchzubringen. Kinder, die so früh geboren werden, würden "blöd werden und wären nie normal".

Aber welche Mutter gibt schon ihre Kinder auf? Sie versorgte die Mädchen selber und legte sie an den einzigen Ofen im Haus in eine warme Schublade. Das eine Mädchen, Luise, starb noch am selben Tag. Das andere, Marie, überlebte und hatte ein sehr langes, bewegtes Leben. Sie starb 2012 im Alter von 93 Jahren. Ihre Mutter Anna Alhorn starb 1947 im Alter von 60 Jahren.

Heinrich Alhorn wurde im Jahre 1912 Mitglied der damals in Oberbauerschaft noch bestehenden Pflichtfeuerwehr. Im Jahre 1924 kam es zur Gründung der heutigen Freiwilligen Feuerwehr. Dieser trat Heinrich Alhorn sofort bei und blieb ihr über 60 Jahre treu verbunden. Außer im Dritten Reich. Da war er wegen des "Horst-Wessel-Liedes", ein Kampflied der SA und die Parteihymne der NSDAP, aus der Feuerwehr ausgetreten.

Bei den Nationalsozialisten hatten weder er noch seine Frau einen guten Stand. Sie erhielten am 14. Juli 1934 ein Schreiben der NSDAP-Kreisleitung in Lübbecke. In diesem Schreiben wird ihnen mit Konsequenzen gedroht - unter anderem der, sie als Hebamme abzusetzen, wenn sie nicht aufhöre, "die Arbeit am Aufbau des Dritten Reiches zu sabotieren".

Weiter heiß es in dem Schreiben: "Wir werden einen jeden, der sich untersteht, die SA zu beleidigen, mit den schärfsten Mitteln entgegentreten. Wenn Ihr Mann ferner anlässlich der Treuekundgebung zum Führer geäußert hat "Wozu das alles", so hat er den Sinn der Zeit noch nicht begriffen und wird es auch nie begreifen, dass die NSDAP und nicht die SPD die Macht in den Händen hat."

Später arbeitete Heinrich Alhorn auch als Totengräber. Das war eine interessante Paarung: Sie holt die Menschen als Hebamme auf die Welt und er begegnet den Menschen, wenn sie die Erde wieder verlassen. Heinrich Alhorn starb 1973 im Altern von 87 Jahren.

Todesdrohung der Kreisleitung

Der Brief der NSDAP-Kreisleitung Lübbecke um Kreisleiter Ernst Meiring macht deutlich, dass die Nazis Andersdenkende bespitzelten. "Wie uns hier in Lübbecke bekannt wurde, sind Sie dauern am Meckern, kritisieren und mießmachen." Sie sei dem Gerücht nachgegangen, habe sich in Oberbauerschaft umgehört und dort sei das Gerücht "in jeder Hinsicht" bestätigt worden, schrieb die NS-Kreisleitung.

Sie unterstellt Anna Alhorn Sabotage und die dann folgende Drohung ist nichts anderes als eine Todesdrohung. "Der Saboteur aber, wie unser Führer bereits wiederholt zum Ausdruck brachte, wird von uns mit letzter Konsequenz zur Rechenschaft gezogen."

Bildunterschrift: Dieses Foto aus dem Jahr 1912 zeigt Hebamme Anna Alhorn (r.) und eine Kollegin in Dienstkleidung.

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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land, 28./29.03.2020:

Als der Terror die Herrschaft übernahm

1.000 Jahre sollte es währen, das Dritte Reich / Zwölf Jahre herrschte in Deutschland der Nazi-Terror / Im Lübbecker Land saßen die Nazis früh ganz fest im Sattel / Vor 75 Jahren endeten das Regime und der Zweite Weltkrieg / Daran erinnert die NW im 1. Teil ihrer Serie

Joern Spreen-Ledebur

Lübbecker Land. Es war der Abend des 30. Januar 1933. Kolonnen von SA-Männern, Angehörige der so genannten Sturmabteilungen der NSDAP, marschierten mit Fackeln durch das Brandenburger Tor in Berlin. Huldvoll winkte ihnen Adolf Hitler zu, der an diesem Tag zum deutschen Reichskanzler ernannt worden war.

Die braunen Horden in Berlin und in vielen anderen Städten und Dörfern im damaligen Deutschen Reich sangen das Horst-Wessel-Lied, die Partei-Hymne der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Sie sangen auch "Nun zittern die morschen Knochen", getextet von Hans Baumann. In dem faschistischen Liedtext ist von Kampf die Rede. "Und liegt vom Kampfe in Trümmern die ganze Welt zuhauf, das soll uns den Teufel kümmern, wir bauen sie wieder auf", heißt es in der zweiten Strophe.

Zwölf Jahre später lag die Welt in Trümmern. Millionen Menschen waren getötet worden. Im Krieg und von den Nazis ermordet. Die Nazis hatten das verantwortet. Sie aber bauten die Welt, die in Trümmern lag, nicht wieder auf.

Führende Repräsentanten des NS-Terror-Regimes standen in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem internationalen Tribunal, andere hatten sich wie Adolf Hitler, Propaganda-Chef Joseph Goebbels oder SS-Chef Heinrich Himmler durch Selbstmord der Verantwortung entzogen.

Nach zwölf Jahren Nazi-Herrschaft langen weite Teile der Welt in Trümmern. Rund sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens waren von den Nazis umgebracht worden. Die jüdischen Gemeinden im damaligen Landkreis Lübbecke existierten nicht mehr.

Die Nazis hatten Menschen mit Behinderungen umgebracht und einen Angriffskrieg entfesselt, bei dem vor allem die damalige Sowjetunion einen hohen Blutzoll entrichten musste. Die Grenzen im zerstörten Europa wurden 1945 neu gezogen. Millionen Deutsche waren wegen Flucht und Vertreibung aus ihrer Heimat östlich von Oder und Neiße Hitlers letzte Opfer. Viele fanden im heutigen Espelkamp eine neue Heimat.

Kunstmaler als "glühender Kämpfer für die Sache Hitlers"

Die Nazi-Funktionäre hatten im April 1945 schon das Weite gesucht. Auch der Lübbecker Kreisleiter Ernst Meiring, der Andersdenkende schikaniert und verfolgt hatte, tauchte unter. Zu den Andersdenkenden gehörte etwa der Lübbecker Sozialdemokrat Karl Haddewig, der 1944 im Lager in Lahde (Weser) ums Leben kam. Es sollte sechs Jahrzehnte dauern, bis die Stadt Lübbecke eine Straße nach Karl Haddewig benannte.

Ernst Meiring tauchte unter, als am 4. April 1945 Levern brannte und am Abend jenes Tages viele Menschen und Tiere tot waren. Am gleichen Tag rückten die Briten in Lübbecke ein. Lübbecke blieben als offener Stadt Kämpfe erspart. Meiring flüchtete ins Sauerland, lebte dort drei Jahre unter falscher Identität. Dann gab es 1948 eine Amnestie für Faschisten mit falscher Identität.

Meiring meldete sich, hatte mit dem früheren Nazi-Landrat Kurt von Borries einen Fürsprecher und büßte nicht einen Tag hinter Gittern für seine Taten. Zumal auch in der jungen Bundesrepublik viele Richter mit brauner Vergangenheit den Nazi-Korpsgeist wahrten und gegen Staatsanwälte wie Fritz Bauer aus Frankfurt, der durch die Auschwitz-Prozesse bekannt wurde, intrigierten. Mit dem Fall Meiring hat sich Walter Seger intensiv befasst, der gebürtige Lübbecker schrieb dazu ein Buch.

Im Frühjahr 1933 war das Lübbecker Land fest in der Hand der Nazi-Verbrecher. Die Ortschaft Drohne konnte es kaum abwarten und bot Adolf Hitler die Ehrenbürger-Würde an. Drohne, so hieß es im Frühjahr 1933 in der gleichgeschalteten Presse, sei eine der ersten Ortschaften in der Provinz Westfalen, die dem so genannten "Führer" diesen Titel antrugen. Diese Ehrenbürgerschaft wurde erst vor wenigen Jahren offiziell aufgehoben.

Auch Rahden hat einen Ehrenbürger mit Nazi-Vergangenheit. Kunstmaler Professor Carl Langhorst wurde 1867 in der heutigen Marktschänke geboren und wurde an Fürstenhöfen als Maler geschätzt. Im April 1933 bezeichnete sich Langhorst selbst in einem Bericht des damaligen Rahdener Wochenblattes "als langjährigen glühenden Kämpfer für die Sache Adolf Hitlers". Langhorst dichtete SA-Lieder und rühmte sich, Hitler zu dessen Geburtstag am 20. April 1933 ein "Bildnis der Mutter des Führers" geschenkt zu haben.

Die Ehrenbürger-Würde von Carl Langhorst wurde nie aufgehoben, aus Sicht der Stadt endete sie mit dem Tod des Kunstmalers. Die Professor-Langhorst-Straße gibt es in Rahden bis heute - ebenso wie die Carl-Diem-Straße. Benannt nach einem NS-Sportfunktionär, der für die Olympiade 1936 in Berlin übrigens den bis heute bei allen Olympiaden gebräuchlichen Lauf mit der im antiken Olympia entzündeten Fackel zum Ort der Spiele initiierte.

In Rahden erinnern mittlerweile vor zahlreichen Häusern Stolpersteine an die Bürger jüdischen Glaubens, die hier einst lebten und von den Nazis umgebracht wurden. Auf Initiative des Arbeitskreises "Jüdisches Leben in Rahden" verlegte Künstler Gunter Demnig im November 2015 die ersten 16 Stolpersteine.

Wichtige Vorarbeit hatte viele Jahre zuvor die Geschichtswerkstatt der damaligen Hauptschule Rahden um Lehrerin Ursula Esther-Hartke geleistet. Sie hatte 1995 / 1996 gemeinsam mit den Jugendlichen die Spuren der einstigen Jüdischen Gemeinde gesucht und in dem schon lange vergriffenen Heft "Sie lebten mitten unter uns" aufgeschrieben.

Anfang 1933 lebten in Rahden noch 62 Bürger jüdischen Glaubens. In Lübbecke wurde die Synagoge am 9. November 1938 von den Nazis niedergebrannt. Die Rahdener Synagoge brannte am folgenden Tag. Der Überlieferung nach sollen die Kirchenglocken geläutet haben, als 1942 die letzten Rahdener jüdischen Glaubens in die Vernichtungslager deportiert wurden.

Ein Pfarrer verweigerte mutig den Hitlergruß

Auch Richard Frank und sein Sohn Hans gehörten zu denen, die verhaftet und deportiert wurden. Vater und Sohn überlebten wie durch ein Wunder die Mordmaschinerie der Nazis. Peter Weidenbaum musste Rahden zusammen mit seinen Eltern im Jahr 1937 verlassen. Zum ersten Mal nach 79 Jahren hatte Peter Weidenbaum im November 2016 wieder vor seinem Elternhaus gestanden - anlässlich der Verlegung weiterer Stolpersteine.

Das rassistische, völkisch-nationale Gedankengut der Nazis hatte die Menschen auch im Lübbecker Land früh vergiftet. Die Hitler-Faschisten saßen fest im Sattel. Schloss Haldem, einst zu Zeiten der Mindener Bischöfe als Rittergut gebaut, wurde 1936 zur Gebietsführerschule "Langemarck" der Hitler-Jugend. Überlieferungen zufolge sollen die NS-treuen "Deutschen Christen" sich wiederholt in der Haldemer Heilig-Kreuz-Kapelle getroffen haben.

Kein Freund der Nazis war der Leverner Pfarrer Theodor Olpp. Eine seltene Biografie in jenen Tagen. Er hatte 1935 den Hitlergruß während des Konfirmandenunterrichts verweigert und wurde denunziert. Daraufhin war Olpp von der Gestapo verhaftet und aus dem Regierungsbezirk Minden ausgewiesen worden. Zudem erhielt Olpp Redeverbot. Daran änderte auch eine Unterschriftenaktion nichts, an der sich fast alle Gemeindeglieder beteiligten.

Im Jahr 1938 begann im Wiehengebirge hoch über Lübbecke der Bau der Gau-Schulungsburg. Viele Bürger leisteten dabei freiwillig Arbeitsstunden. Als die Gau-Schulungsburg dann im Sommer 1939 mit großem Getöse eingeweiht wurde, war der Kriegsausbruch nur noch wenige Wochen entfernt.

Bildunterschrift: Im alten Zustand: Der von Heinrich Bünemann gestaltete Speisesaal im Lübbecker Church House, der früheren NS-Gau-Schulungsburg, habe anders als von manchen vermutet nichts mit einem Schiff zu tun, sagt Bünemanns Tochter. Die Architektur orientiere sich vielmehr an der von westfälischen Bauernhäusern.

Bildunterschrift: Walter Seger hat sich mit der Geschichte Lübbeckes in der Nazi-Zeit befasst.

Bildunterschrift: Reichlich Fahnen und Uniformen: Zu den Rednern bei der Einweihung der Gau-Schulungsburg Lübbecke im Juni 1939 gehörten neben Gauleiter Alfred Meyer und Kreisleiter Ernst Meiring auch weitere Vertreter der Nazi-Partei. Zu den Rednern zählte auch Reichsschulungsleiter Friedrich Schmidt aus München - hier am Rednerpult.

Bildunterschrift: Das alte Rittergut Haldem ist heute eine Einrichtung des Maßregelvollzugs. Von 1936 bis 1945 war es Sitz der Gebietsführerschule "Langemarck" der Hitlerjugend.

Bildunterschrift: Seltene Aufnahme: Nicht viele Fotos existieren von der 1852 errichteten Synagoge in Rahden. Der massive Bau schließt sich auf der linken Straßenseite an das ehemalige Polizeihaus und den Vorgängerbau des Amtshauses an. Die Synagoge wurde am 10. November 1938 von den Nazis niedergebrannt.

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Neue Westfälische - Zeitung für das Lübbecker Land, 28./29.03.2020:

NW-Serie: Als der Nazi-Terror herrschte

Lübbecker Land. Zwölf Jahre herrschte in Deutschland der Nazi-Terror. Im Lübbecker Land saßen die Nazis fest im Sattel. Vor 75 Jahren endeten das Regime und der Zweite Weltkrieg.

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