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Neue Westfälische , 28.04.2005 :

Der Strom der Totenträger riss nicht ab / Eingepfercht im Lager in Welda: Geschätzt rund 80.000 deutsche Soldaten warten auf den Weitertransport

Von Dieter Scholz

Welda. 17 Tage nur hatte das Kriegsgefangenenlager auf dem Feld hinter dem ehemaligen Weldaer Bahnhof Bestand. 17 lange Tage - zwischen dem 17. April und 3. Mai 1945. Unbeschreibliche Zustände, Hunger, Hoffen und Bangen, der nackte Kampf ums Überleben zwischen knietiefem Schlamm und den knatternden Maschinengewehrsalven amerikanischen Militärs. Für geschätzt 80.000 deutsche Soldaten.

Ein in Kriegsgefangenschaft geratener Offizier der Wehrmacht, der damals das Lager am Hoppenberg überlebt hat, übermittelte dem ehemaligen Ortsheimatpfleger Bruno Hake folgende Zeilen aus seinem Tagebuch: "Es mag vielleicht in der Nacht zum 22. April gewesen sein, als wir nach Welda bei Kassel weitertransportiert wurden.

Hier begann die eigentliche Leidenszeit auf freiem Feld: Es regnete tagelang in Strömen, wir bekamen pro Tag nur einmal kalte Verpflegung (mengenmäßig soviel wie für eine Katze), wir hatten kein Dach über dem Kopf und verbrachten die Nächte herumgehend, an einem Feuer hockend oder stumpfsinnig im Schlamm stehend. Wir wurden mit Knüppeln geschlagen.

Ich sah, wie vorher gesund gewesene Kameraden dem Wahnsinn verfielen, an hellem Tage den Zaun zu übersteigen versuchten und schließlich erschossen im Draht hängen blieben. Erstmalig wurde die SS aussortiert und für normale Begriffe entsetzlich gemartert. Wir begannen fürchterlich zu hungern, zu verdrecken und mit unserem Leben abzuschließen. Ich verbrachte fünf oder sechs Nächte ohne jeglichen Schlaf, weil ich es nicht wagte, mich bei der herrschenden Kälte und Nässe auf den Boden zu legen. Wir wurden vernommen, gesiebt und aussortiert und waren als Offiziere schließlich unter uns.

Ich kann nicht sagen, wie viele Soldaten in jenem Lager gestorben sind, aber der Strom der Träger, die die Ohnmächtigen oder Toten durch die mittlere große Lagergasse trugen, riss zu keiner Tages- oder Nachtstunde ab."

Erschütternde Zeilen, die an das Auffanglager der Amerikaner für deutsche Soldaten in den letzten Kriegstagen des Jahres 1945 in Welda erinnern. Täglich kamen und gingen Gefangene ab. Amerikanische Soldaten quatierten sich in vielen Häusern Weldas ein. In den "Weldaer Heimatblättern", Ausgabe April 1998, hat Bruno Hake Briefe, die ihn im Laufe der Jahre erreicht haben, unkommentiert veröffentlicht.

"Die Zeilen sprechen für sich", sagt der Weldaer. Übereinstimmend berichten die ehemalige Lagerinsassen von den unsäglichen Leiden in dem Lagergeviert aus einfachem Stacheldraht ohne Zelte oder Hütten.

Ein Soldat, der seinen späteren Wohnsitz in der DDR hatte, berichtet unter der Überschrift "Ich habe die Hölle gesehen" aus seinen Erinnerungen: "Als wir in der Abenddämmerung von einer Knüppelgarde vom Lkw gedroschen wurden, erkannte ich am Hang eines Tales zwei Reihen rechteckiger mit Stacheldraht abgeteilter Camps.

An einem Gebäude in ummittelbarer Nähe von Gleisen konnte ich gerade noch das Stationsschild erkennen, Welda war da zu lesen. In eines der etwa zehn Camps wurden wir wie eine Viehherde getrieben. Da standen wir nun auf einem knöcheltief aufgeweichten Acker. Es regnete ununterbrochen, die hereinbrechende Nacht wurde sehr kalt. Scheinwerfer von Militärlastwagen erhellten den Lagerzaun.

Die an diesem Tag angekommenen Gefangenen wurden über einen plärrenden Lautsprecher in polnisch akzentuiertem Deutsch begrüßt. Wir sollten über Nacht nachdenken, wer unter der Achselhöhle ein Nümmerchen tätowiert hätte. Für sie hätte man eine besondere Begrüßung vorbereitet. Sie sollten sich am nächsten Morgen am Camptor freiwillig melden. Wer seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS verheimliche, erfahre eine Sonderbehandlung.

Um es vorwegzunehmen, die Ergebnisse dieser Sonderbegrüßung konnten wir am folgenden Tag nur hören. Die Fahnder kamen auch in die Camps und suchten sich ihre Opfer. Zurück zur ersten Nacht in Welda. Die häßliche Stimme im Lautsprecher verriet uns noch, dass heute ein besonderer Tag sei, der Führer feiere seinen letzten Geburtstag.

In den Nachbarcamps erkannten wir inmitten gebildeter Kreise kleine Flämmchen. Gespenstisch hoben sich Gestalten vom Nachthimmel ab. Wie man zu einer solchen kleinen Wärmequelle kommen konnte war uns schleierhaft, aber zusammenstellen war auch schon angenehm. Eine Maschinengewehrsalve peitschte durch die Nacht, dann die Aufforderung durch den Lautsprecher, alle Feuer zu löschen.

Diese Maschinengewehrsalve ersetzte lediglich einen Gong. Nach einigen Minuten durchpeitschten einzelne Schüsse die Luft. Was geschehen war, konnten wir nur ahnen. Am folgenden Tag, nach dem Verpflegungsaustrieb, blieb an der Stelle des nächtlichen Geschehens etwas Menschenähnliches, mit dem Gesicht im Schlamm liegend, zurück. Nach dem Vorfall legten wir stumm unsere Stirnen zusammen, wer einen Mantel hatte, zog ihn nach oben über den Kopf.

Die Nässe und Kälte kroch Zentimeter um Zentimeter im Körper nach oben, die Füße spürte ich schon lange nicht mehr. Sie hatten sich im Schlamm versenkt. Es war auch schwierig, sich im Morgengrauen aus dieser Stellung zu befreien, die Schuhe hatten sich festgesaugt. Unser kleines Häuflein blieb zusammen. Viel Bewegungsmöglichkeit blieb uns nicht. Wir machten uns gegenseitig Mut und träumten von baldigem Abtransport in ein richtiges Gefangenenlager."


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