Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt ,
04.01.2020 :
Als man aus Kindern Nazis machte
Wer nicht der Hitlerjugend angehört, der muss samstags zur Schule / Rektor Hermann Diekmann schafft eine NS-Vorzeigeschule mit morgendlicher Flaggenparade und Hitlergruß
Horst Biere
Oerlinghausen. Als "rote Hochburg" galt Oerlinghausen, als Hitler im Jahre 1933 an die Macht kam. Bei den entscheidenden Reichstagswahlen im März lag die SPD in der Bergstadt mit weitem Abstand vor der Nazi-Partei NSDAP: 45 Prozent SPD, nur 33 Prozent NSDAP. Nun aber wurde in ganz Deutschland "gleichgeschaltet" - mit brutaler Macht und auch in Oerlinghausen.
Als erstes jagte die SA unter der Führung des Oerlinghauser Sturmbannführers Kurt Heumann den langjährigen verdienten Bürgermeister August Reuter aus dem Amt - mit Unterstützung der neuen lippischen Landesregierung. Zum Bürgermeister setzten die braunen Machthaber den "NSDAP-Parteigenossen" Friedrich Möller ein. Als neuen Leiter der Volksschule ernannte man am 1. April 1933 Hermann Diekmann, der den Nazis schon seit langem sehr nahe stand und auch für die NSDAP im Oerlinghauser Stadtrat saß.
Mit großem Eifer machte sich Diekmann daran, die Kinder der Volksschule auf Parteilinie zu bringen. Um die Jungen zum Beitritt zur Hitlerjugend (HJ) zu veranlassen, sowie alle Mädchen zum Bund Deutscher Mädchen (BDM), baute er zusammen mit seinem Kollegium erheblichen Druck auf. So hatten die Jugendlichen, die noch nicht die braune HJ-Uniform trugen, an Samstagen zur Schule zu kommen. Deutschlandweit hatten die Nazis den Samstag zum "Staatsjugendtag" ernannt, der schulfrei war.
An diesen Samstagen bekamen die nichtorganisierten Schüler Oerlinghausens nun Nachhilfe im neuen nationalsozialistischen Denken. Man las Kapitel aus der NS-Schülerzeitung vor, oder man befasste sich mit nationalgeschichtlichen Fragen sowie mit Themen der Vererbungs- und Rassenlehre. Breiten Raum an den Schulsamstagen nahm auch Hermann Diekmanns Hobby ein, die Ur- und Frühgeschichte der Germanen.
Der Erfolg des Samstagsunterrichts ließ nicht lange auf sich warten: Bald konnte Diekmann zur Landesregierung melden, dass 100 Prozent der Oerlinghauser Kinder in den Hitler-Organisationen mitmachten. Jetzt durfte der Schulleiter auch eine weitere Neuheit in der Schule einführen, die tägliche Flaggenparade.
Wie beim Militär standen Jugendliche und Lehrer nun morgens um acht auf dem Schulhof und auf Kommando wurde die Staatsjugendflagge mit dem Hakenkreuz gehisst. Ein Schüler der Hitlerjugend hatte als "Unteroffizier vom Dienst" ein Kampflied anzustimmen und danach einige Sätze aus dem Buch "Aus deutschem Blut und deutscher Seele" vorzulesen. Die Kinder sangen anschließend eine weitere Strophe des Kampflieds, und dann verabschiedete man sich mit dem bekannten Hitlergruß, dem ausgestreckten Arm, in die Klassen zum Unterricht.
Nazi-Diekmann indoktriniert die Jugend der Bergstadt
Die Landesregierung war begeistert von Schulleiter Diekmanns NS-Erziehung, denn die Oerlinghauser Volksschule lag damit weit vor allen anderen lippischen Schulen. Hermann Diekmann schrieb zudem an die Schulbehörde: "Der Erfolg ist um so höher anzuschlagen, da Oerlinghausen bis zur Machtergreifung noch "das rote Nest am Berg" genannt wurde." Jetzt aber bekam er wegen seiner Leistungen üppige Landeszuschüsse zur Schulbibliothek. Und Diekmann bestellte wiederum die neue NS-Kinderliteratur. Zum Beispiel: "Der Hitlerjunge Quex", "Meldegänger Hitler", "Die Pioniere des 3. Reiches" oder aber den Bildband "Hitler in seinen Bergen".
Die braune Stadtverwaltung unterstützte die Oerlinghauser NS-Erziehung ebenfalls mit großzügigen Zuwendungen. So stellte man als erstes "HJ-Heim" einen Eisenbahnwaggon am Freibad auf, später wurde der Treffpunkt der Hitlerjugend zum alten Feuerwehrspritzenhaus an der Detmolder Straße verlegt. Die Kinder zogen natürlich immer mehr mit, denn das Angebot an Veranstaltungen wurde attraktiver: Geländespiele, Lagerfeuer, Wehrsport, Aufmärsche, Uniformierung und Singen für die Jungen, Basteln und Kochen für die Mädchen. Großer Beliebtheit erfreute sich in der Bergstadt eine Sondergruppe, die Flieger-HJ. Dort bot man Segelflug-Lehrgänge oder Modellbau-Aktionen an. Zur Sonnenwendfeier am 21. Dezember marschierten die Oerlinghauser Jugendlichen stets mit einem Fackelzug auf den Tönsberg und entfachten dort ein großes Feuer unmittelbar an der Windmühle.
Ferienlager der Hitlerjugend mit 1.000 Jungen
HJ und BDM waren bei allen größeren Veranstaltungen mit eigenen Abteilungen und Fahnen vertreten. So zum Beispiel bei "Führers Geburtstag", der Oerlinghauser "900-Jahr-Feier" im Jahre 1936 oder auch am 1. Mai. Auch überörtlich zeigte sich Oerlinghausen nun besonders aktiv. So fand im Sommer 1939 für einen ganzen Monat ein großes Ferienlager der Hitlerjugend aus Hamburg-Süd im Schopketal statt, an dem um die 1.000 Jungen teilnahmen, die in 75 Zelten untergebracht waren. Mit Kampfspielen und Wehrsportübungen in den Wäldern verbrachten die Jugendlichen ihre Sommertage in der Bergstadt. Für welche verbrecherischen Zwecke die Kinderspiele genutzt werden sollten, hat wohl niemand geahnt.
Bildunterschrift: Die Modellbau-Gruppe der Oerlinghauser Hitlerjugend zeigt ihre schönsten Exemplare Anfang der 1940er Jahre vor der Schultür. Heinz Bökenbrink (hinten v. li.), Fritz Helmig, Heinz Risse, Günter Rehm, (vorne v. li.) Richard Koch, Willi Köster, Rolf Meier, Erwin Lange.
Bildunterschrift: NS-Schulleiter Hermann Diekmann fotografierte oft den Schulalltag - hier eine Aufführung des Schultheaters der Volksschule. Das Bild entstand in den 1930er Jahren.
Bildunterschrift: Kampfspiele der Jugendlichen in Oerlinghausen bildeten schon eine Vorbereitung auf einen künftigen militärischen Einsatz.
Bildunterschrift: Der neu eingesetzte Schulleiter Hermann Diekmann ist ein überzeugter Nazi.
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Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt, 23./24.11.2019:
Die Straßenkinder der 30er Jahre
Stadtgeschichte: Spiele mit Murmeln und Tonnbändern, mit Budenbauen und Reiterkämpfen / Horst Heißenberg beschreibt die frühesten Jugendjahre an der Robert-Koch-Straße
Horst Biere
Oerlinghausen. Autostraßen als Kinderspielplätze? Vor 80 Jahren war das kein Problem. "Die Motorisierten bildeten in den 30er Jahren die absolute Ausnahme, so dass wir Kinder auf der Straße Fußballspielen konnten", schreibt Horst Heißenberg in seinen Lebenserinnerungen. "Die Robert-Koch-Straße, in der ich aufgewachsen bin, war zusammen mit dem Steinbült eine geschotterte Sackgasse, auf der sich meist nur Pferdefuhrwerke begegneten." Im Jahre 2007 verstarb der 1929 geborene Heißenberg. Seine Aufzeichnungen über die Bergstadt allerdings geben einen amüsanten Einblick, wie unabhängig Kinder damals in Oerlinghausen aufwuchsen.
"Ab dem dritten Lebensjahr gingen wir Kinder von der Robert-Koch-Straße gemeinsam zu Tante Änne in den Kindergarten unterhalb der Kirche." Es war kein weiter Weg, doch die Kleinen waren stolz darauf, dass sie so selbstständig ohne Begleitung von Erwachsenen dorthin rennen konnten. "Wir waren glücklich, heiter und zufrieden in der dörflichen Atmosphäre Oerlinghausens", erinnerte sich Heißenberg.
Später, in der Schulzeit, trafen sich alle Klassenkameraden nachmittags auf der Straße. "Es gab ja noch keine PCs", erzählte er, "wer Glück hatte, dessen Eltern besaßen im Wohnzimmer ein Radio, einen so genannten Volksempfänger". Gemeinsam spielten sie auf dem "Trottoir" (Bürgersteig), der an der Robert-Koch-Straße nur aus festgetretenem Lehm bestand. Sie liebten kleine Wettkämpfe: "Unser Favorit war das Spiel Deutschland gegen England, das wir mit unseren Taschenmessern ausführen konnten." Die Kinder spielten oft mit Murmeln, also kleinen gefärbten Glas- oder Tonkugeln, die man in ein Loch auf dem Gehweg befördern musste. Mitten auf der Straße ließen sie die Tonnbänder sausen. Das waren Eisenreifen von alten Holzfässern, die man mit einem Holzstock über die Straße trieb.
Das Material, also die Holzstöcke, holten sich die Kinder einfach vom nahegelegenen Menkhauser Berg. Der bewaldete "Menkhauser" bildete ohnehin einen riesengroßen Abenteuerspielplatz. Man streifte durchs Unterholz, grub tiefe Löcher in den Waldboden und baute so seine "Bude". Schön abgedeckt und getarnt mit Grasbüscheln und Reisig, damit eine gegnerische "Bande" sie nicht gleich fand und eindringen konnte.
Es gab immer wieder kleine Kämpfe oder Reiterspiele. Mal waren es Indianer gegen Cowboys, mal die Gendarme ("Schanditz") gegen die Räuber. Die Kinder rauften miteinander, verdrehten sich Arme und Beine, warfen sich gegenseitig auf den Boden und fesselten sich.
"Die neue Weltanschauung kapierten wir nicht"
Es gab mal kleine Schrammen und eine blutige Stirn, doch nach dem Spiel versuchte man alle Blessuren geschickt zu verbergen. Denn wenn jemand so verdreckt und blutig nach Hause kam, setzte es manchmal noch kräftige Ohrfeigen der Eltern.
"Viel Zeit haben wir investiert in den Bau von Sandburgen", berichtete Horst Heißenberg. Am Menkhauser Berg gegenüber des Kastanienkruges lag eine weithin sichtbare Sandkuhle. Oftmals grub man sich wie ein Maulwurf tief in den Sand hinein, ließ sich von den Spielkameraden bis zum Hals zuschütten und versuchte aus eigener Kraft wieder heraus zu gelangen. Früh lernten die Oerlinghauser Kinder das Schwimmen im eiskalten Wasser des Schopkebades. Dann 1936 eröffnete das Freibad am Kalkofen. "Bei der Einweihung konnte ich meine Kraulschwimm-Künste zeigen", schrieb Heißenberg, "und erhielt dafür meinen Spitznamen "Haifisch"".
Einer der glücklichsten Tage der Jugendzeit kam für ihn, als ihm sein Vater ein wunderschönes Kinderfahrrad schenkte. "Ich war damals erst viereinhalb Jahre alt, doch ich habe schnell gelernt, wie man damit fährt." Natürlich waren alle Spielkameraden neidisch, doch es galt offenbar als selbstverständlich, dass auch die Nachbarskinder mitten auf der Robert-Koch-Straße darauf Radfahren lernten. Nun aber konnte der kleine Knirps seinen Horizont gewaltig erweitern. "Jetzt durfte ich - mit einem Rucksack behängt, in dem Geld und ein Einkaufszettel lag - alleine in die Holter Straße zum Einkaufen fahren." Die Mutter schickte den Kleinen zum Geschäft von Frau Daube oder zu Lücking, die ihren typischen Tante-Emma-Laden im Erdgeschoss des Kastanienkrugs besaßen. Das frische Brot gab`s in der Bäckerei Dickmann an der Ecke Holter- / Friedrichstraße. Manchmal sogar führten die Einkaufstouren ihn zu Schlachter Pucker (heute Fleischerei Nier) am Ende der Hauptstraße oder zu Bäcker Wedepohl gleich im Nebenhaus.
Zehn Jahre lang habe er mit seinen Eltern und seinem Bruder Ernst-August ("Flandern"), seinen Schwestern Ruth ("Deiwi") und Bärbel ("Rabba") an der Robert-Koch-Straße gelebt, erinnerte sich Horst Heißenberg. "Dann, 1939, kündigte sich mein Bruder Jochen an." Die größere Familie brauchte mehr Platz. "Daraufhin haben meine Eltern das Haus an der Detmolder Straße Nr. 48 gekauft." Für den kleinen Horst bedeutete der Umzug gleichzeitig den Wechsel von der Volksschule (heute Rathaus) zur Rektorschule (am Kirchplatz). Doch nach nur kurzer Zeit waren auch die Freundschaften im damaligen 3.000-Seelen-Ort Oerlinghausen neu geregelt. "Nach wie vor streiften wir durch die Wälder", schrieb Horst Heißenberg, "nur jetzt in Uniform der Hitlerjugend. Aber die neue Weltanschauung kapierten wir nicht."
Zur Person
Horst Heißenberg besuchte ab 1943 / 44 das Gymnasium Leopoldinum in Detmold, wurde im Alter von 15 Jahren noch mit anderen Mitschülern im Kriegseinsatz nach Holland transportiert.
Er musste mit seinen Mitschülern Panzergräben ausheben, um die anrückenden Alliierten aufzuhalten.
Er erlebte britische Tieffliegereinsätze und kam dann nach Oerlinghausen zurück.
Horst Heißenberg studierte später Vermessungsingenieurwesen, besaß für lange Zeit ein bekanntes Ingenieurbüro in Helpup.
Er war verheiratet und hatte vier Kinder.
Sein letztes Büro war in der Weber Villa an der Detmolder Straße.
Bildunterschrift: Für kurze Zeit durften sie den neuen Wetterhahn tragen, der auf die Spitze der Alexanderkirche gesetzt wurde. Links, das Friseurgeschäft Drewes, im Hintergrund der Simonsplatz.
Bildunterschrift: Im Matsch des Straßenrandes bauen die Kinder kleine Dämme, sie "köckern".
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Am 4. Januar 2020 berichtete Horst Biere in der "Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt" ("Als man aus Kindern Nazis machte") über Hitlerjugend (HJ) und den Bund Deutscher Mädchen (BDM) in Oerlinghausen.
Am 23. November 2019 berichtete Horst Biere in der "Neue Westfälische - Bielefelder Tageblatt", an Hand von Aufzeichnungen von Horst Heißenberg, über einige Straßenkinder der 1930er Jahre, in Oerlinghausen.
Am 7. April 2016 wurde "Die Opfer des Nationalsozialismus aus Oerlinghausen. Ein Erinnerungsbuch" - auf der Internetseite der Stadt Oerlinghausen auch als Download abrufbar - von Jürgen Hartmann vorgestellt.
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www.oerlinghausen.de
04./05.01.2020
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