Lippische Landes-Zeitung ,
11.04.2005 :
Die Menschen leiden noch heute / Das Interview mit dem Historiker Andreas Ruppert: 60 Jahre Kriegsende
Von Martin Hostert
Detmold. Am 8. Mai jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 60. Mal. Anlass für viele Sendungen in Fernsehen, für viele Berichte in den Tageszeitungen. Auch die LZ hat in einer Serie an Schicksale von Menschen in Ostwestfalen-Lippe erinnert, und viele melden sich nach wie vor mit "ihrer Geschichte" in der Redaktion. Warum ist das so? Fragen an den Detmolder Stadtarchivar Andreas Ruppert.
LZ: Warum schreiben so viele Menschen ausgerechnet jetzt ihre Erinnerungen auf?
Ruppert: Die Selbstdarstellung als Opfer und auf der anderen Seite die Herausstellung als Täter sind heute ausdiskutiert. Die Kriegsteilnehmer sind pensioniert und hatten die Kraft und den Abstand, das für sich aufzuarbeiten - und ebenso denjenigen, die den Krieg als Kind miterlebt haben. Viele folgen dem Impuls, die Dinge nun beim Namen zu nennen. Die Jahrestage bieten sich da an. Vor zehn Jahren war das übrigens noch nicht so intensiv. Und 60 Jahre sind eine lange Zeit, und in zehn Jahren gibt es nur noch wenige Überlebende.
LZ: Wie sind diese persönlichen Berichte - oft ganze Tagebücher oder seitenweise Erinnerungen - historisch einzuordnen?
Ruppert: Das ist wichtiges Quellenmaterial, das von der Mikroebene berichtet, von einzelnen Menschen erzählt, und nicht von Strukturen und großer Politik. Es bereichert unsere Einschätzungen.
LZ: Wer schreibt denn überhaupt?
Ruppert: Diejenigen, die zum Kriegsende noch Kinder waren, sind unbelastet und haben uns heute etwas Wichtiges zu sagen. Wenn einer berichtet, wie er als Achtjähriger heulend im Bunker saß - dann ist das Alltagsgeschichte, die anrührend ist, finde ich. Das hat bis heute niemand hören wollen. Dann gibt es die, die im Krieg waren, und die nach 1945 erst einmal bevorzugt ständig ihre Opferrolle betonten - etwa in Sätzen wie "Was haben wir vor Stalingrad gelitten", und die von ihrer Vertreibung erzählten. Andere haben es mit Franz-Josef Strauß gehalten - "Ein Volk, das eine solche Aufbauleistung vollbringt, muss nicht ständig an Auschwitz erinnert werden" - und die Bundesrepublik aufgebaut.
LZ: Wann hat sich dieses Denken geändert?
Ruppert: Erst seit 1968 wird die Rolle der Deutschen als Täter konsequent diskutiert - Folge des Auschwitz-Prozesses in Frankfurt, der 1963 begann. Als klar wurde: Es gibt auch eine andere Sicht.
LZ: Richard von Weizsäcker hat die Deutschen als Täter benannt ...
Ruppert: Ja, und der Generationenwechsel musste wohl kommen. Es gibt die Erfahrung, dass die Eltern nicht mit den Kindern reden, das tun eher die Enkel mit den Großeltern. Auch weil die Lehrer sagen: Frag' doch mal deinen Opa, wie das war, als die Amerikaner in Detmold eimarschierten.
LZ: Sie sagten eben, das hat niemand hören wollen. Ist das heute anders?
Ruppert: Ja. Jetzt gibt es auf beiden Seiten die Bereitschaft, zuzuhören.
LZ: Aber was erwarten die Menschen von einem veröffentlichten Erinnern? Warum reicht ihnen Berichterstattung im privaten Umfeld nicht aus?
Ruppert: Das ist individuell unterschiedlich. Eine Antwort weiß ich nicht, aber es gibt sicherlich nicht den Impuls, sich wichtig zu machen Es geht darum, an die Zeit zu erinnern. Und je konkreter und persönlicher zurückgeblickt wird, desto intensiver sind diese Erinnerungen. Doch Geschichte ist nicht nur Datensammeln. Sie wissen nur durch Erzählungen, was die Leute gefühlt haben.
LZ: Wie reagieren die Familien, das Umfeld, wenn der Großvater seine Kriegserlebnisse aufschreibt?
Ruppert: Viele fallen aus allen Wolken, denn oft ist über Jahrzehnte geschwiegen worden. Gerade die Vertriebenen haben viel erlebt - und wer die schwersten Erlebnisse hatte, hat am häufigsten geschwiegen. Man muss es aber auch hören wollen, dass die Deutschen auch viel gelitten haben.
LZ: Was hat es den Menschen so schwer gemacht, ihre Erfahrungen in früheren Jahren aufzuschreiben?
Ruppert: Je schwerer die Erlebnisse, desto länger dauert die Zeit, bis man darüber redet. Der Krieg hat den Menschen nicht nur die Jugend genommen, viele haben über Jahrzehnte psychisch und physisch gelitten und tun es bis heute. Und erst jetzt sind wir außerhalb der Täter/Opfer-Diskussion. Das war noch 1985 ganz anders. Ich erinnere an die Straßenkämpfe in Detmold, als die Grünen im Stadtrat sich gegen den Wunsch der Traditionsgemeinschaft des Infanterieregimentes 18 stellten, eine Gedenktafel am Weltkriegsdenkmal der 55-er am Kaiser-Wilhelm-Platz anzubringen. Es gab massive Auseinandersetzungen auf der Straße. Verhaftungen.
LZ: Heute undenkbar.
Ruppert: Es gibt diesen Konflikt nicht mehr. Die Protagonisten beider Seiten reden miteinander.
detmold@lz-online.de
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