Schaumburger Zeitung ,
11.04.2005 :
Völkerwanderung gilt den Silos: "Da ist was zu holen!" / Schreien, schubsen, drängeln - Zehntausende kommen zum Plündern nach Berenbusch / Durch Margarine gewatet
Von Wilhelm Gerntrup
Berenbusch. "Das war, als wenn ein Bienenschwarm auf dich zukommt" - Friedrich Brüggemann hat den Massenansturm auf das Heeresproviantlager Berenbusch im April 1945 noch deutlich vor Augen. Das Anwesen des heute 94-Jährigen (Nordhölzer Straße 10) liegt nur gut tausend Meter von dem Ziel der "Völkerwanderung" entfernt. Auch das Lager selbst war und ist dem Bergmannssohn, für den der Krieg nach einer schweren Kopfverletzung bereits 1939 zu Ende war, vertraut. Nach seiner Wiedergenesung hatte er mehrere Jahre lang in den Vorratsbunkern gearbeitet.
"Am 6. April, einen Tag bevor die Amerikaner in unserer Gegend auftauchten, ging es los", kann sich Brüggemann noch gut an den Ablauf der rund eine Woche andauernden, exakt 60 Jahre zurückliegenden Ereignisse erinnern. Einen regulären Räumungsbefehl des in Minden sitzenden Lagerkommandos habe es nicht gegeben. "Die haben einfach alles stehen und liegen lassen und sind abgehauen". Auch die etwa 35 in den Hallen und Silos beschäftigten Männer und Frauen hätten sich - reich bepackt - aus dem Staube gemacht. "Das wirkte auf die Menschen hierzulande wie ein Signal". Auch ohne E-Mail und Telefon hätten plötzlich alle gewusst, "dass da was zu holen ist". Innerhalb weniger Stunden seien ganzSchaumburg-Lippe und die Leute aus dem Nachbarkreis Minden auf den Beinen gewesen. "Da rollten Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern mit Handwagen, Fahrrädern, Kinderkarren und Pferdefuhrwerken auf das Dorf zu".
Für nicht wenige wurde der Trip zum gefährlichen Unterfangen. Während der ersten beiden Tage wurde noch geschossen und gekämpft. Ein Junge kam auf dem Weg zu den Provianthäusern durch Granatsplitter ums Leben. Die nördlich des Kanals wohnenden Leute mussten lange Umwege in Kauf nehmen. Sämtliche Brücken, auch der Übergang direkt neben dem Depot, waren gesprengt. Später machten Wegelagerer den Berenbusch-Gängern zu schaffen. An etlichen Stellen lauerten polnische und russische Ex-Kriegsgefangene und Fremdarbeiter den voll bepackten Rückkehrern auf. Auch die amerikanischen Besatzer sollen hin und wieder zugegriffen haben.
In und um die Lagerhäuser herum ging es laut Brüggemann "wie auf dem Kirmesplatz" zu. Alles sei drunter und drüber gegangen. "Es wurde geschrieen, geschubst, gezerrt und gedrängelt. Vor den Luken lagen - wahllos zerstreut - große Haufen von Mehl, Zucker, Nudeln und Roggen im Dreck. Die Menschenmenge "watete" durch Kaffee, Margarine und Zigaretten. Wer sich bis ins Bunkerinnere vorgekämpft hatte, durfte auf nie zuvor gesehene und/oder lange entbehrte Köstlichkeiten hoffen. Über vier Stockwerke verteilt lagen und hingen riesige Mengen von Fleisch, Wurst, Speck, Butter, Kognak und Likör. "Einige rollten gleich mannshohe Käseräder weg", beschreibt Brüggemann das hektische Treiben. Bauern aus der Umgebung hätten zentnerweise Butter, Brot und Getreide beiseite geschafft. Eine Frau sei mit einem ganzen Arm voller Würste abgezogen. "Sie hatte solchen Hunger, dass sie noch während des Gehens immer wieder große Happen abbiss".
"In den Straßen (von Bückeburg) wimmelt es von Menschen, die mit Autos, Handwagen und Rädern sich von den Vorräten holen", notierte Prof. Hans Rausch, Gymnasiallehrer am Adolfinum, in einem Erlebnisbericht. "Es herrscht allgemeine Entrüstung, dass keine Oberleitung bei der Verteilung herrscht, so dass vieles vergeudet wird. Die Menschen zertreten die Butter, auf der Treppe liegen zertrampelte Zigarren und Zigaretten. 5 Zentner Schreibfedern, ganze Ballen von Papier liegen aufgestapelt. Niemand mehr zu Nutzen!"
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