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Mindener Tageblatt , 07.04.2005 :

Begegnung mit einem freundlichen Feind / Ein kurzer Augenblick vor 60 Jahren hat Friedhelm Bertelmanns Verhältnis zu den Menschen mitgeprägt

Porta Westfalica-Nammen (gp). "Es war nur ein ganz kurzer Moment", denkt der "Nammer Junge" Friedhelm Bertelmann an ein kleines Erlebnis kurz vor Kriegsende zurück. "Aber er hat mein Denken und Handeln und mein Verhältnis zu den Menschen von Grund auf geprägt."

Von Wilhelm Gerntrup

Es war exakt vor 60 Jahren, am 7. April 1945, knapp eine Woche nach Ostern. Der heute in Bückeburg wohnende, durch seine zahlreichen Vorträge und Veröffentlichungen bekannt gewordene "Weltenbummler" war damals elf Jahre alt. Der Vater war im Krieg. Seit Tagen saßen der heute 71-Jährige und sein zwei Jahre jüngerer Bruder zusammen mit der Mutter in einem Lüftungsstollen der Zeche "Wohlverwahrt" oberhalb von Wülpke.

"Da war die ganze Umgegend versammelt", erinnert sich Bertelmann. "Vor allem alte Leute, Frauen und Kinder." Alle hätten in einer langen Reihe dicht hintereinander unter Decken und unter dem von Zuhause mitgebrachten Bettzeug gelegen. Zuvor hatten einige Wülpker Bauern Stroh auf dem feucht-kalten Felsboden verteilt.

Der Rückzug der Menschen unter die Erde begann, als der Gefechtslärm der heranrückenden Front immer lauter wurde. Mehrere Bürgermeister aus der Umgebung hatten Handzettel verteilen lassen, in denen vor heftigem Beschuss gewarnt und die Leute zur Flucht in die nahe gelegenen Bergwerksstollen aufgefordert wurden.

Über und über mit Patronengurten behängt

"Alle hatten Angst, es wurde viel gemunkelt, aber keiner wusste genau, was auf ihn zukommen würde", schildert Bertelmann die Stimmung in dem Höhlenlabyrinth. Es war zugig, finster und kalt. Das Flackern der Kerzen und Karbidlampen warf bizarre Schatten auf die zerklüftete Gesteinswand.

Dann plötzlich, am 7. April, tauchten - wie aus dem Nichts - drei Männer in fremdartigen Uniformen im Stolleneingang auf. Vorsichtig und langsam, mit entsicherten Gewehren im Anschlag, bewegten sie sich - einer nach dem anderen - in die Dunkelheit vor. Der Anführer rief etwas in einer unbekannten Sprache. Verzagt antwortete irgendwo aus der Dunkelheit eine Frau. "Gott sei Dank hatten wir eine Lehrerin aus Meißen dabei", so Bertelmann. "Die konnte ein bisschen Englisch."

Während des kurzen Gesprächs stand einer der Männer direkt neben seinem Lagerplatz. "Er war über und über mit Patronengurten behängt", hat Friedhelm Bertelmann noch heute die Details deutlich vor Augen. "Am Koppel und über einer Schulter hingen Eierhandgranaten".

Der Blick des Fremden wanderte aufmerksam hin und her. Dann sah er den beiden Jungs ins Gesicht. Er stutzte, nahm eine Hand vom Gewehr und griff langsam in die Brusttasche seines Kampf-Overalls. "Ich dachte, jetzt ist es aus", schildert Friedhelm Bertelmann den Moment der Angst. "Uns fuhr ein kalter Schock durch die Glieder."

Von Schokolade noch nie etwas gehört

Doch der Fremde lächelte, sagte etwas, beugte sich vor und drückte den Bertelmann-Jungs ein paar längliche, dunkelfarbene Riegel in die Hand. Die Mutter sagte hinterher, dass das Schokolade sei. Davon hatten die beiden bis dahin noch nie etwas gehört.

Die drei Soldaten setzten sich anschließend wieder in Bewegung. Ihre Gestalten verschwanden Schritt für Schritt in der Dunkelheit. Die Lehrerin aus Meißen kam herüber und erzählte, was der Soldat mit der Schokolade gesagt hatte: "Ich habe in Alabama auch zwei Jungs wie Euch - die warten und denken jetzt zu Hause an mich."


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