Deister- und Weserzeitung ,
06.04.2005 :
Wie die Hamelner den Beschuss der Stadt erlebten / Glück gehabt! Ein Blindgänger fünf Meter vom Kellereingang entfernt / Die Feuerwehr hatte kein Wasser zum Löschen
Von Bernd Gelderblom und Wolfhard F. Truchseß
Hameln. Günter König war bei Kriegsende 13 Jahre alt und wohnte in der Altstadt. Seine Großeltern hatten ihre Wohnung in der Großen Hofstraße. Königs Eltern betrieben damals ein stationäres Milchfachgeschäft an der Nelkenstraße (heute Steigerturm). König berichtet: "Am 5. April fand kein Verkauf mehr statt. Einen 'Warenbestand' von einigen Kilo Butter und zwei Laib Edamer nahmen wir mit. Es sollte für die nächsten drei Tage unsere Nahrung sein." Bei Luftalarm gingen die Königs bei den Großeltern in den Keller. So auch am 5. April. König: "Vor die Tür wagte sich keiner mehr. Zwei Tage dauerte der Beschuss. Gegen Morgen am 7. April eine große Detonation - ein Einschlag! Eingehüllt in eine große Staubwolke saßen wir angsterfüllt in unserem Gewölbekeller. Erst als der Staub sich gelegt hatte und es heller wurde, wagten wir uns vorsichtig raus. Im Flur, fünf Meter von unserem Kellereingang entfernt lag eine 50 cm große Granate - ein Blindgänger. Das Geschoss war durch das Haus meiner Großeltern geflogen, Einschlag gegenüber im Redenhof mit Endstation Flur. Was wäre wenn?, frage ich mich heute manchmal. Glück gehabt!"
Der 13-jährige Hans-Albrecht Centner beschreibt die Verzweiflung und Untergangsstimmung, welche die Bevölkerung ergriffen hatte. Bombenangriffe, Artilleriebeschuss und der pausenlose Luftalarm hatten die Menschen zermürbt. Centner: "Am Morgen des 6. April wurde das Feuer etwas eingestellt. Von deutschenSoldaten erfuhren wir, dass sich Hameln noch nicht ergeben hatte und weiter verteidigt werden sollte. Das beste Hotel von Hameln, 'Die Sonne', war vollständig ausgebrannt. Immer wieder kamen deutsche Soldaten mit Panzerfäusten die Straße entlang. Das Artilleriefeuer hatte für ein Weilchen ausgesetzt. Man hörte nur Maschinengewehrfeuer und einzelne Schüsse.
Auf der Straße sah man überall schimpfende und meuternde Leute. Sie schimpften auf den Kampfkommandanten und den Oberbürgermeister, welche die Stadt immer noch nicht übergeben wollten:
'So ein Wahnsinn, die Stadt noch länger zu verteidigen, dadurch wird ja doch bloß ganz Hameln zerschossen.'
'Dort vorne steht der Bürgermeister, hat die Hand am Revolver und schwingt ein großes Maul. Niederschießen müsste man den Hund, aber sowie ihm jemand zu nahe kommt, zieht er seinen Revolver und drückt ab.'
'Wer hat denn die Schuld daran, dass das schöne Hotel ausgebrannt ist?! Wer hat die Schuld, dass so viele Familien ihr Heim verloren haben?! Alle diese Leute, die es angeordnet haben, Hameln zu verteidigen. Und die hohen Bonzen von der Partei, was machen die?! Die werden sich schon zeitig genug in Sicherheit gebracht haben.'
'Und der Hitler ist ja überhaupt wahnsinnig, jetzt noch weiter zu kämpfen. Das Bisschen, was nach den vielen Terrorangriffen von Deutschland noch übrig geblieben ist, noch gewaltsam zu zerstören, wo doch alles keinen Zweck mehr hat! Das hätte die Regierung dem Volk wirklich ersparen können. Aber jeder, der zu Hitler geht und sagt, dass Frieden gemacht werden soll, wird in ein Konzentrationslager gesperrt.'
'Und wenn der Bürgermeister ein Herz gehabt hätte, hätte er Hameln dem Feind kampflos übergeben und sich selbst erschossen, wenn er der Aburteilung entgehen wollte. Aber das hat er nicht getan!'
So hörte man die Leute durcheinander schimpfen. Bald mussten wir wieder nach Hause gehen, da das Artilleriefeuer wieder einsetzte. Es war von großer Stärke und dauerte den ganzen Vormittag ohne Unterbrechung an.
Mittags ließ das Feuer wieder etwas nach. Wir gingen noch einmal auf die Osterstraße. Das Haus von Tengelmann war schon beinahe herunter gebrannt. Der Laden wurde geplündert. Das Feuer hatte über die Kleine Straße übergegriffen und das Haus des Uhrmachers König schon in Brand gesteckt. Da einige tatkräftige Männer die brennenden Dachziegel und Gardinen herunterrissen, konnte dieses Haus vor dem endgültigen Niederbrennen bewahrt werden.
Das Gasthaus ,Zur Börse' war jetzt unmittelbar gefährdet. Da kam plötzlich Feuerwehr. Alle Leute atmeten auf. Nun konnte wenigstens dieses Haus gerettet werden. Aber nirgends war Wasser. Eine Pumpe, die den großen Wasserbedarf der Feuerwehr hätte fördern können, fand sich auch nirgends. Daher versuchten die Feuerwehrmänner, den Leitungsschlauch in die Hamel zu legen. Doch auch hier waren die Pumpen nicht stark genug und das Haus konnte nicht mehr gerettet werden."
Der Arbeiter Josef Urbaniak schildert eine Begebenheit aus den Tagen der Beschießung Hamelns. Urbaniak war in der Weimarer Republik gewerkschaftlich organisiert und stand in Opposition zum Hitler-Regime. Hier sein Bericht:
"Hinter unseren Häusern hatten die Amis Artillerie aufgebaut. Da hatten sie acht Geschütze und ballerten damit nach Hameln ... Da kommt eine Nachbarin zu mir gelaufen und sagt: 'Seppel, komm mal her; da ist ein Mann mit acht Mann, und der will nach dem Vogel schießen.' Die meinte ein Flugzeug, das leitete die Artillerie der Amis. Das flog immer hin und her. Ich runter nach ihm. Stand da tatsächlich ein Feldwebel, Maschinenpistole in der Hand, und seine sechs Männer saßen da am Rand, hatten noch Panzerfäuste.
Ich sag: 'Wer will hier schießen?'
'Was wollen Sie?'
Ich sag: 'Ich habe gehört, Sie wollen da das Flugzeug abschießen.'
'Ja, ich bin doch Soldat!'
Ich sag: 'Hören Sie mal zu! Wissen Sie, damit haben Sie den Krieg nicht gewonnen! Was Sie anrichten können, ist, dass die Artillerie, die da oben am Berg steht, ihre Rohre senkt und hier die ganzen Kinder und Frauen abknallt. Das erreichen Sie! Sie sind ja verrückt! Da sind Soldaten, die haben ihre Gewehre in die Ecke geschmissen, und Sie wollen noch! Überleg doch!'
Und seine Männer kniffen mir ein Auge zu. Der hatte sie noch in der Fuchtel. Die freuten sich, dass ich ihm den Marsch geblasen hatte.
Auf einmal sagte der: 'Haben Sie eine Zivilkleidung für mich?'
Ich sage: 'Nur das, was ich hier anhabe. Leider nicht. Wo wollen Sie denn hin?'
'Ich komme aus Bodenwerder. Ich würde doch nach Hause hin kommen.'
Ich sage: 'Da kommen Sie gar nicht mehr hin. Bleiben Sie mal hier, wie die anderen auch. Die Amerikaner sind doch schon lange über die Weser. Diese Nacht haben sie rübergemacht.'
'Ja, wie komm ich denn nach Haus?'
Ich sag: 'Gar nicht. Sie müssen in die Gefangenschaft.'
Das waren gefährliche Stunden, Minuten, kann man sagen. Wenn der geschossen hätte nach dem Flugzeug, dann wären viele total vernichtet worden."
Josef Urbaniaküberzeugt durch seinen gesunden Menschenverstand und Mut den Führer einer kleinen Gruppe von Soldaten von der Sinnlosigkeit seines Tuns. Die Wehrmacht wurde zu Kriegsende nur noch durch Drohung mittels Standgerichten zusammengehalten. Josef Urbaniak hat übrigens auch mit dafür gesorgt, dass der Nero-Befehl zur Zerstörung von Industriebetrieben nicht durchgeführt wurde.
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