WebWecker Bielefeld ,
06.04.2005 :
"Wie der zweite Geburtstag"
Von Manfred Horn
Gut gefüllt war das Foyer des Theaterlabors am Sonntag Mittag. Der Verein "Gegen Vergessen, für Demokratie" hatte gemeinsam mit dem Stadttheater und dem Theaterlabor zur Lesung geladen. Im Mittelpunkt standen Briefe ehemaliger Zwangsarbeiter in Bielefeld, die ihre Befreiung vor nun genau 60 Jahren beschrieben.
Unter den Gästen war auch Wladimir Timofejew. Er war mit 13 Jahren einer der jüngsten Zwangsarbeiter, die 1942 nach Bielefeld verschleppt wurden. Er gehörte zu denen, die vor 60 Jahren von der US-Armee befreit wurden. Als am 4. April am Rathaus die weiße Fahne gehisst wurde, hatte sich Timofejew bereits in einer Gartenlaube versteckt. Er war geflohen, zu groß die Ungewissheit, was die Nationalsozialisten im Anblick der Niederlage noch vorhatten. Mit einigen Freunden, ebenfalls geflohene Zwangsarbeiter, quartierte er sich in einem Restaurant außerhalb der Stadt ein. Dies hatte geschlossen, ein willkommener Ort für einen Unterschlupf. Schließlich gab es dort Zucker und Trockenmilch.
227 Lager gab es im Raum Bielefeld während des Krieges, geschätzte 17.000 Zwangsarbeiter, vor allem Frauen und vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, wurden dort festgehalten und zur Arbeit gezwungen. Mindestens 228 Betriebe, mindestens 286 Bauernhöfe, dazu eine unbekannte Zahl von Privathaushalten ließen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für sich arbeiten, hält Wolfgang Herzog vom Verein "Gegen Vergessen, für Demokratie" fest. Wie viele davon bei Kriegsende noch in Bielefeld waren, sei hingegen nicht ganz klar. Der Verein vermutet aber, dass in diesen Tagen zusätzlich eine größere Zahl von Zwangsarbeitern von auswärts nach Bielefeld kam. Sie wurden weg von den heranrückenden alliierten Truppen ins "Reichsinnere" getrieben.
"Der Tag der Befreiung steht für das Ende des Systems millionenfacher unfreier Arbeit im nationalsozialistischen Deutschland", erklärte Herzog bei der Veranstaltung im Theaterlabor. Davon zeugen auch 26 Briefe, die der Verein kürzlich erhielt. Er hatte ehemalige Zwangsarbeiter angeschrieben verbunden mit der Bitte, ihr Erleben in den Tagen der Befreiung zu schildern. Die Briefe kamen aus der Ukraine, aus Lettland, aus Russland und aus Weißrussland – Resultat guter Kontakte, die der Verein in den vergangenen Jahren geknüpft hat.
Einziger Gedanke: Flucht
Therese Berger, Lisa Wildmann und Thomas Wolff vom Ensemble des Bielefelder Stadttheaters trugen einen Teil der Briefe eindrucksvoll vor. Darunter auch die Geschichte von Leonid Leonidowitsch Kusnetzow, der von 1942 bis 1945 als Zwangsarbeiter in der Gärtnerei von Alfons Strotmann in Bielefeld tätig war. Für ihn begann das Kriegsende Ostern 1945. Da wurde er von einem Soldaten zu einer Eisenbahnbrücke gebracht. Mitten in der Nacht musste er zusammen mit anderen Zwangsarbeitern losmarschieren, am nächsten Morgen erreichten sie den Stadtrand. "Danach jagten sie uns unter die Bäume, wo wir eine Rast machten. In diesem Moment kam mir der Gedanke, dass ich fliehen müsste", schreibt Kusnetzow:
Die Flucht gelang, er ging zurück bis nach Heepen. Dort war die Gärtnerei, in der er drei Jahre lang arbeiten musste. Die Hausherren erlaubten ihm zu bleiben. Allerdings unter einer Bedingung. Kusnetzow solle sich im Garten ein Loch graben und sich darin "Tag und Nacht" verstecken. "Das Loch habe ich nicht gegraben, ich versteckte mich einige Tage in den Büschen", erinnert sich Kusnetzow. Schließlich durfte er doch wieder ins Haus, in ein Zimmer, in dem schon zwei andere Zwangsarbeiter befanden. Tage später erschienen dann zwei Feuerwehrmänner und nahmen sie mit, immer stadtauswärts. Irgendwann hatten die beiden Feuerwehrleute keine Lust mehr und übergaben die Aufsicht an drei Polen. Die machten sich aber auch aus dem Staub.
Nochmals kehrt Kusnetzow nach Bielefeld zurück. Hier wurde er dann auch befreit. Doch Kusnetzow kam nicht zurück in seine Heimat auf der Krim, stattdessen brachte man ihn in den Süden des Urals. Dort arbeitete er erst in der Hüttenindustrie und dann als Ladearbeiter. Als ich im Ural ankam, schrieb ich nach Hause in die Stadt Kertsch auf der Krim. Kusnetzow lebte 19 Jahre im Ural, erst 1964 konnte er nach Kertsch im Ural zurückkehren.
Warwara Nikolaewna Sarutskaja war von 1942 bis 1945 Zwangsarbeiterin bei Miele: "Der Tag des Sieges ist wie der zweite Geburtstag." Am 4. April 1945 hatte sie zunächst Angst: "An diesem Tag ging ich nicht auf den Hof, wieso weiß ich nicht, entweder vor Freude oder vor Aufregung." Ein Motorrad fuhr um die Ecke, aus dem Megaphon krächzte es: "Ergebt euch, ihr seid umzingelt! Legt die Waffen nieder!" Aus dem dritten Stock fielen tatsächlich die Waffen, die Befreiung war da.
Nach der Befreiung wurde sie krank: "Mein junger Organismus hielt das Ganze nicht aus." US-amerikanische Ärzte kümmerten sich um sie. Dann ging es mit einem LKW Richtung Osten, sie wurde zusammen mit ihrem Mann – der in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Bielefeld Zwangsarbeiter war – der sowjetischen Armee übergeben. Die sahen in den Zwangsarbeitern Kollaborateure, ganz als ob sich diese freiwillig zur Arbeit in Deutschland gemeldet hätten. So kam ihr Mann zunächst nicht in seine Heimat zurück, er musste "zu Fuß nach Mittelasien". Sarutskaja jedoch hatte Glück: Ihr wurde die Rückkehr erlaubt.
Schicksale, die stellvertretend stehen für das Leid von Tausenden. Lange Jahre interessierte das kaum jemand. Der Verein "Gegen Vergessen, für Demokratie" freut sich, dass Zwangsarbeiter seit wenigen Jahren endlich mehr Aufmerksamkeit genießen. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen blieben die Zwangsarbeiter jahrzehntelang lästige und kriminelle "displaced Persons", betont Herzog. Die verstärkte Wahrnehmung – die für viele zu spät kommt, weil sie bereits verstorben sind – sei aber keinen Grund zur Beruhigung: Denn die Auseinandersetzung mit Rassismus sei in Deutschland aktuell. "In einer Zeit, in der die Gestaltung der Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern eine offene und gesellschaftlich umkämpfte Frage ist, ist eine intensive Beschäftigung mit dieser Phase unserer Geschichte besonders dringend", merkt Herzog an.
Die Bielefelder Sektion des Vereins "Gegen Vergessen, für Demokratie" sammelt weiter Spenden für die ehemaligen Zwangsarbeiter, die in Bielefeld waren. Die Spenden gehen ohne Abzug an die ehemaligen Bielefelder Zwangsarbeiter. Mittlerweile haben etwa 50 Personen jeweils 200 Euro erhalten. Gespendet werden kann auch direkt auf das Konto des Vereins:
Kirchenkreis Bielefeld
Sparkasse Bielefeld
Kontonummer: 364
BLZ: 480 501 61
Kennwort: "Zwangsarbeit"
Der Verein ist eine Gruppe vor Ort im WebWecker und stellt dort Informationen bereit.
Der WebWecker hat einen Schwerpunkt zum Thema Zwangsarbeiter.
webwecker@aulbi.de
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