Deister- und Weserzeitung ,
05.04.2005 :
Als die Hamelner Weserbrücken gesprengt wurden / Aus dem Tagebuch der damals 15-jährigen Karla Redeker: "Unser Backhaus sah aus wie eine Ruine"
Von Bernhard Gelderblom
Hameln. Die von Gauleiter Hartmann Lauterbacher verfügte Sprengung der Hamelner Weserbrücken wurde in dem Augenblick ausgelöst, als amerikanische Panzerspitzen in der Nacht zum 5. April das Klütviertel erreichten. Sie hatte verheerende Folgen. Für die Amerikaner signalisierte die Sprengung, dass die Stadt sich verteidigen würde. Sie beschossenHameln daraufhin zwei Tage lang. Die Sprengung zerstörte aber nicht nur die Brücken, sondern verursachte auch große Schäden an Gebäuden. Karla Redeker erlebte die Detonationen als 15-Jährige in ihrem Elternhaus am Brückenkopf - den Älteren bekannt als "Kaffee Hansa". Die folgenden Aufzeichnungen entstammen dem Tagebuch, das Karla Redeker damals geführt hat:
"Am Abend des 4. April kamen unsere Mieter von unten herauf und sagten? dass um 20 Uhr die Brücke gesprengt werden sollte. Es war schon kurz vor acht. Wir haben schnell fertig gegessen und sind durch die ganze Wohnung gegangen, nein gerannt, haben alle Fenster und Türen aufgemacht und alles, was zerbrechlich war und hoch stand oder hing, auf die Erde gestellt undsind dann mit unserem Luftschutzgepäck in den Keller gegangen.
Wir glaubten doch, wir könnten nach der Sprengung wieder in die Wohnung und ins Bett gehen. Niemand hat überlegt, dass die Brücke ja bestimmt erst im allerletzten Augenblick gesprengt würde und dass dann gleich die ,Feinde' kämen und wir eventuell länger im Keller bleiben müssten. Wir hatten nichts zu essen und kein Bettzeug unten. Erst recht hatte keiner daran gedacht, Geld, Schmuck und Wertsachen mit hinunter zu nehmen.
Dann haben wir gewartet und gewartet, aber die Brücke wurde nicht gesprengt. Es traute sich auch niemand mehr hinauf, weil sie ja jeden Augenblick hochgehen konnte. Später kamen Soldaten vom Volkssturm in den Keller, die abwechselnd eine Stunde bei uns schliefen. Sie sollten das Klütviertel verteidigen. Sie haben uns erzählt, dass drei Gewehrschüsse das Zeichen zur Brückensprengung seien, dass wir die also auch hören müssten. Es wurde immer später; es wurde 1 Uhr, es wurde 2 Uhr, es wurde 3 Uhr. Da war ich in meinem Sessel etwas eingeschlafen.
Plötzlich gegen 3 Uhr gab es einen schrecklichen Knall. Ich fuhr auf, am ganzen Körper zitternd vor Schreck. Das Licht war aus, eine Rußwolke kam aus dem Schornstein und erfüllte den Keller, die Türen rappelten, die Fenster klirrten; gleich darauf noch ein Knall, noch schlimmer als der erste; draußen Krachen, das Geräusch einer einstürzenden Mauer, Klirren von Fensterscheiben, die auf den Hof fielen; gleich darauf noch ein Knall und noch einer. Das Haus zitterte und bebte, alles spielte sich in Sekundenschnelle ab.
Und dann die Ruhe, unheimliche Ruhe nach diesem Krachen und Bersten. Kein Laut war zu hören, bis nach einiger Zeit draußen Schritte laut wurden. Man konnte ja jeden Schritt auf dem mit Glasscherben übersäten Hof hören. Das mussten unsere Soldaten sein. Alles atmete erleichtert auf und horchte nach draußen. Dann wurden mehrere Schritte laut, es hörte sich unheimlich an, dieses Knirschen des Glases unter jedem Tritt. Wir haben dann eine Kerze angezündet und gewartet, bis es hell wurde. Um 7 Uhr sind wir dann hinausgegangen, um erst einmal zu sehen, was von unserem Haus noch stand. Diesen ersten Anblick werde ich nie vergessen. Grau die Luft, grau der Himmel, der Hof voll Glasscherben, überall leere Fensterhöhlen, nebenan zwei große Löcher in der Hauswand, Steine, Schutt und Dachziegel überall.
Unser Backhaus sah aus wie eine Ruine. Wir sind dann weiter gegangen in den Laden. Die Türen waren ja alle auf, wir brauchten keine Schlüssel mehr. Alle drei Schaufenster kaputt, Scherben überall, mittendrin herausgeflogene Türen. Die Hälfte der Mitteltür war herausgeflogen, die Haustür kaputt, im Lokal alle Fenster raus, Schutt, Scherben und Steine auf der Treppe. Dann unsere Wohnung. Wir haben geglaubt, dass wir nie wieder darin wohnen könnten. Ich hätte auch nicht gewusst, wo anfangen bei diesem Durcheinander. Das Abendbrotgeschirr lag in Scherben auf der Erde. Der Tisch, der an der Wand gestanden hatte, war mindestens zwei Meter weiter in die Küche gerückt.
Wir haben schnell etwas zu essen gemacht, die Betten zusammengerafft und in den Keller gebracht und wollten nun gerade noch einmal durch die untere Wohnung gehen, als einige Leute, die sich schon auf die Straße getraut hatten, riefen: ,Die Panzer kommen, die Panzer kommen!' Da sind wir dann schnell wieder in den Keller gelaufen.
Gleich darauf fingen die Straßenkämpfe an. Wir konnten die Schießerei schon vom Fort Luise an hören. Es war ein schreckliches Gefühl, als es immer näher kam und immer deutlicher wurde. Schließlich begann das Maschinengewehr drüben auf der anderen Straßenseite zu schießen. Es wurde so laut, dass bei jedem Schuss das ganze Haus bebte. Als das Schießen am schlimmsten war, legten wir uns im Keller platt auf den Boden. Vorher hatten wir schon Schritte die Treppe im Haus hinaufpoltern hören. Oben in der Wohnung hörte es sich an? als wenn alles, was noch heil geblieben war, jetzt mit Gewalt entzwei geschlagen würde. Plötzlich ging die Kellertür auf, eine Taschenlampe blitzte auf, so dass wir alle geblendet waren, und eine Stimme fragte: ,Snaps?' Als der Soldat schon wieder weg war, ist mir erst aufgegangen, dass das der erste Amerikaner gewesen war, den wir zu Gesicht bekamen.
Bald danach kam eine Nachbarin und sagte uns, dass hier auf dem westlichen Weserufer schon alles vorbei wäre. Die Panzer schössen nur noch nach Hameln hinüber. Wir wunderten uns nun auch gar nicht mehr über den Krach, denn rings um unser Haus standen sechs Panzer, die alle schossen. Diesen ganzen Tag traute sich von uns niemand aus dem Keller."
Lesen Sie morgen: Die beiden Tage der Beschießung der Stadt Hameln.
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