Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische ,
24.12.2004 :
Weihnachten im Bombenkrieg / Vor 60 Jahren: Paderborner erinnern sich an die Festtage
Von Jutta Steinmetz
Paderborn. 1944 war für die Paderstadt alles andere als ein ruhiges Jahr. Die Fliegerangriffe der Alliierten, die dem Terrorsystem der Nazis ein Ende machen wollten, prägten mehr und mehr das Leben in der kleinen Stadt. 560-mal schrillten die Sirenen. 186 Stunden Vor-, 348 Stunden Vollalarm verzeichnet die Chronik für dieses Kriegsjahr. "Wir hatten auch nachts Trainingsanzüge an, um möglichst schnell in die Keller zu kommen", erinnert sich die 67-jährige Paderbornerin Mariethres Lüke. Und so sollte man besinnliche Weihnachten feiern?
"Der Heiligabend 1944 war abenteuerlich schön", erzählt Heinrich Röper, der zusammen mit seinem Bruder Karl und seiner Mutter Anna in der Brüderstraße lebte. In der ganzen Stadt sei es stockdunkel gewesen, es habe kein einziges Licht gebrannt. Schließlich galten die strengen Verdunklungsvorschriften auch während der Festtage. "Und als wir dann nach dem Christkindchenklingeln ins Weihnachtszimmer kamen und dort die Kerzen am Baum brannten, das war absolut schön", meint er.
"Es gab wie jedes Jahr einen Christbaum", erinnert sich auch Brigitte Kaiser. Nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit in der Paderstadt. Denn einen öffentlichen Verkauf von Weihnachtsbäumen gab es im sechsten Kriegswinter nicht mehr. Die Wirren hatten das Schlagen und den Transport von Bäumen unmöglich gebracht. Vielleicht habe ein befreundeter Bauer aus Klausheide, der der Familie schon mal mit Kartoffeln und Täubchen aushalf, den Baum gebracht, vermutet die damals 14-Jährige, die gemeinsam mit ihrer Mutter, ihren Schwestern Irmgard und Mechthild und der zweijährigen Nichte Barbara in der Nordstraße wohnte. Wie immer sei der Baum auch geschmückt gewesen. Lametta und Glaskugeln, die die ältere Schwester schon Jahre zuvor in der Schule geblasen und bemalt hatte, sorgten für festlichen Glanz.
Ein Taschenmesser für den Zwangsarbeiter
Trotz aller Not hatten sich die Frauen in der Nordstraße auch ein Herz für Arme bewahrt. Zum Weihnachtsfest habe der Zwangsarbeiter Wladimir aus der benachbarten Autowerkstatt ("Ein lieber Mann", so Brigitte Kaiser) von der Mutter nicht nur wie jeden Tag eine warme Mahlzeit, sondern auch ein Taschenmesser als Geschenk erhalten, sagt die 74-Jährige.
Festliche Stimmung herrschte auch wenig weiter im Haus 32 an der Benhauser Straße. Dort war die Freude bei Maria Lüke und ihren beiden Töchtern Mariethres und Amelie in diesem Jahr besonders groß. Vater Heinrich war von der Front auf Urlaub gekommen. Er habe aber das Haus der Familie in der Pipinstraße als zu gefährlich eingeschätzt, erinnert sich Mariethres Lüke, damals sieben Jahre alt. Dort waren am 16. November 1944 bei einem Bombenangriff einige Häuser getroffen worden. Und so hieß es noch kurz vor Weihnachten für die Familie: Raus aus der Stadt. Fünf Minuten vom Dom entfernt kam die Familie in ihrem Haus an der Benhauser Straße unter.
"Eigentlich war das Weihnachtsfest 1944 ganz normal. Jedenfalls für uns Kinder", meinen Heinrich Röper und Mariethres Lüke unisono. "Aber die Mütter hatten doch viel Sorge, etwas auf den Tisch zu bekommen." Ein Unterfangen, das nicht einfach war. "Es gab bestimmt keine Gans", sinniert Brigitte Kaiser. Die Mutter habe wohl im Vorfeld einiges an Lebensmitteln für die Festtage eingespart. Schließlich waren die Zuteilungen an Lebensmitteln auch zum Fest stark zusammengestrichen. 250 Gramm Fleisch und zwei Eier waren auf der Lebensmittelkarte verzeichnet. Kinder und Jugendliche erhielten 125 Gramm Süßwaren. "Auf dem Weihnachtsteller waren nur ein paar Bonbons und Salmiakpastillen", erzählt Heinrich Röper .
Und doch durfte sich der damals 13-Jährige auch über ein Buch freuen, das ihm Mutter Anna beim Bonifatius Verlag besorgt hatte. Aber ein wenig getrübt war die Begeisterung dann doch. "Um Gottes Willen nichts mit Nazis", habe er seiner Mutter als Wunsch mit auf den Weg gegeben und dann nach der Bescherung doch auf einer Seite des Schmökers "Heil Hitler" lesen müssen, so Röper. "Das Buch hat meine Mutter mit den Worten ’Ich hab's dem Verkäufer gesagt!’ zurückgebracht", schmunzelt er. Zur Entschädigung durfte er sich aus den elterlichen Beständen ein Buch aussuchen. "Die Judenbuche" war es schließlich, die der Junge nun stolz sein Eigen nannte.
Nach Weihnachten zurück an die Front
"Bei uns lagen selbst gemachte Kleider unter dem Baum", erinnert sich Mariethres Lüke. Und natürlich Unterwäsche und Strümpfe. Doch für die drei Lüke-Frauen hatte die Freude schon bald ein Ende. Vater Heinrich musste nach den Festtagen zurück an die Front. Ihre Mutter habe auf Knien gelegen und ihren Mann angefleht zu bleiben. "Das war fürchterlich", hat sich dieser Moment in ihr Gedächtnis geradezu eingebrannt. Der Vater zweier Töchter ging – mit Hinweis auf den geleisteten Eid.
Bei aller weihnachtlichen Atmosphäre war das Kriegsgeschehen allgegenwärtig – obschon an diesen Tagen Angriffe ausblieben. "Es herrschte eine absolute Endzeitstimmung", charakterisiert Heinrich Röper die sechste Kriegsweihnacht. Und so blieb sein Vater Paul, bei der Deutschen Dynamit AG in Christianstadt am Bober (Polen) dienstverpflichtet, einfach zu Hause – nicht nur mit Blick auf den daniederliegenden Reiseverkehr. "Man wusste, es dauert nicht mehr lange. Und man hoffte, dass Paderborn verschont bleibt", so Röper. Eine Hoffnung, die sich zerschlagen sollte. Denn schon wenige Wochen später, am 17. Januar 1945, ging ein schlimmer Bombenhagel auf die Stadt nieder – ein böser Vorbote des 27. März 1945, an dem Paderborn im Flammenmeer versank.
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