Mindener Tageblatt ,
04.04.2005 :
Am Tag, als die Brücken in die Brüche gingen / 4. April 1945: Wehrmacht kappt Verbindungen und Bauern aus dem Volkssturm retten Brücke / Kanadier ziehen ein
Minden (mt). Seit dem Überschreiten des Niederrheins am 23. März näherten sich die Alliierten unaufhörlich. Die Wehrmacht hatte den Befehl, den alliierten Vormarsch an der Weser zu stoppen. Kein gutes Omen für die Stadt.
Von Jürgen Langenkämper
"Am 3. April hörten wir ständig fernen Geschützdonner aus Richtung Süden von jenseits des Wiehengebirges. Es war unheimlich still sonst", erinnert sich die damals 14-jährige Helga Gieseking aus Kutenhausen. "Am Gebäude gegenüber klopfte der Nachbar, der NSV-Berater war, Emailleschilder mit einem Hakenkreuz von der Wand." Kein gutes Zeichen für den Endsieg, an den einige noch immer glaubten.
Die letzte Hoffnung daran hatte Helene Hoffmann noch nicht aufgegeben, obwohl die 22-jährige junge Frau, die seit 1939 Telefonistin bei der Luftschutzpolizei war, wenige Tage zuvor am 28. März beim Volltreffer auf das Stadthaus in der dortigen Meldestelle nur knapp dem Tode entronnen war. Zwei Kolleginnen, die aus den inzwischen besetzten Städten Köln und Lodz stammten, hatten sich - vermutlich um den 2. April - als Sekretärinnen den abziehenden Verbänden zum "Endkampf in der Lüneburger Heide", wo die Wunderwaffe stehen sollte, angeschlossen.
Bürgermeister Dr. Werner Holle hatte ganz andere Sorgen. "Ich weiß nicht, was ich machen soll", habe er angesichts der befohlenen Sprengung der Brücken gejammert, berichtet Helene Hoffmann. Denn bei einer Übergabe der Stadt drohte ihm Vergeltung durch die Nazis - eine ernst zu nehmende Drohung, wie der Fall des ermordeten Bürgermeisters von Aachen zeigte. Andererseits seien es Männer des Volkssturms gewesen, die mit einer Zerstörung der Lebensadern der Stadt alles andere als einverstanden zu sein schienen.
Die Bevölkerung flüchtete bereits am 3. April aus der Stadt. "Wir hatten an dem Tag in unser Haus ein paar Frauen aus Minden aufgenommen", berichtet Helga Gieseking, die in der Gastwirtschaft "Zahs" in Kutenhausen aufgewachsen ist. Als die Gäste sich um ihr Eigentum sorgten, musste die 14-Jährige "zu zweit mit einem Handwagen und Fahrrädern" zu deren Wohnung, um einige Sachen zu holen. "Auf dem Rückweg setzten die Sirenen ein, die sonst bei Fliegeralarm heulten." Jetzt heulten sie, wie angekündigt, 20 Minuten lang: Panzeralarm. "Es war unheimlich."
Bis zum Morgen des 4. April sprengten Pioniere im Raum Minden die Straßenbrücken Eisbergen, Uffeln-Vlotho, die oberstromige Autobahnbrücke (die unterstromige war bereits zerstört), die Kettenbrücke Porta Westfalica und die Eisenbahnbrücke der MKB in Minden. Die Eisenbahnbrücken in Vlotho und Vennebeck waren bereits früher zerstört. Auch fast alle Brücken über den Mittellandkanal seien im Laufe des 3. oder 4. April zerstört worden, schreibt Dr. Hans Nordsiek in seinem Buch "Die verdunkelte Stadt". Aber es gab drei Ausnahmen: Bei der Stiftsallee versagte die Sprengladung und riss nur ein großes Loch. Bei der Beethovenstraße versagte "vermutlich das Sprengkommando", so Nordsiek. Und bei der Sandtrift versagten offensichtlich die Nerven einer der letzten Säulen des Tausendjährigen Reiches. "Dort war Wacholder-Jupp Posten", berichtet Helene Hoffmann, ohne sich an den genauen Namen erinnern zu können. Plötzlich sei er von Bauern mit Schrotflinten umringt gewesen. "Wenn du die Brücke sprengst, schießen wir dich tot", drohten die Bauern, die Äcker und Wiesen auf beiden Seiten des Kanals hatten. Wacholder-Jupp suchte daraufhin das Weite, und die Bauern gingen nach Hause und legten den Mantel des Schweigens über diese Tat.
So viel Glück war der Überführung des Mittellandkanals über die Weser nicht beschieden, obwohl sich zivile Stellen für die Erhaltung der nach Bombentreffern in die Uferböschung des Kanals inzwischen leer gelaufenen Brücke einsetzten. Doch der Kampfkommandant und der zuständige Pionierführer mochten allein nicht entscheiden. Wegen der unterbrochenen Telefonverbindung nach Berlin traf ein Kradmelder aus Hannover mit einem Gegenbefehl sage und schreibe 35 Minuten nach der Sprengung der beiden östlichen Brückenbogen am Abend des 4. April gegen 20 Uhr ein. Der Schiffsverkehr auf der Weser und im Mittellandkanal waren dadurch auf Jahre beeinträchtigt.
Kurz nach 21 Uhr wurde auch die Weserbrücke als letzte Verbindung zwischen den beiden Stadthälften in die Luft gejagt, und mit ihr auch Versorgungsleitungen für das rechte Weserufer, "so dass der östliche Stadtteil Mindens nun ohne Elektrizität, Gas und Leitungswasser war", wie Nordsiek berichtet.
Aber auch die öffentliche Ordnung brach in Teilen zusammen. Das Proviantmagazin und die Heeresbäckerei brannten aus, bevor alliierte Truppen die Stadt besetzten. "Im Weingarten floss der Schnaps die Straße runter", erinnert sich Helene Hoffmann.
Und die Alliierten? Um 23.45 Uhr drang das 1. Kanadische Fallschirmjäger-Bataillon unter Lieutenant Colonel Eadie in die Stadt ein und meldete um 2.30 Uhr des 5. April, dass sie vollständig "gesäubert" sei. Ein Glück für Minden, denn ohne den etwas unplanmäßigen Einzug der von der festgelegten Route abgekommenen Kanadier hätten die Amerikaner 350 "Fliegende Festungen" starten lassen, um die Stadt für den Einzug von US-Truppen sturmreif bombardieren zu lassen.
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