Dewezet ,
02.04.2005 :
Der Volkssturm erwies sich nur als Lüftchen / Auch in Hameln wurde das letzte Aufgebot in den Kampf geworfen - doch die meisten gingen stiften
Von Bernhard Gelderblom und Marc Fisser
Hameln. Die Führung nannte ihn "Volkssturm" und suggerierte, er könne die Kriegswende bringen. In Wahrheit war er das letzte Aufgebot, ein bunter Haufen aus Jugendlichen, Älteren und Kranken. Allein schon durch seine schlechte Ausrüstung erwies sich der Volkssturm für die anrückenden Heere insgesamt nur als Lüftchen. Die Bildung des "Deutschen Volkssturms" aus "Männern zwischen 16 und 60 Jahren" war am 25. September 1944 durch Adolf Hitler befohlen und am 18. Oktober propagandistisch pompös verkündet worden. Am 20. Oktober meldete der hannoversche Gauleiter Hartmann Lauterbacher nach Berlin: "Volkssturm aufgeboten!" Und er stellte fest: "Nie wurde ein Befehl mit solcher Entschlossenheit und mit solchem Fanatismus durchgeführt wie dieser." Der Volkssturm sei "Ausdruck des Kampfeswillens, der Entschlossenheit, auch den letzten Mann einzusetzen". Die Presse berichtete danach fast täglich, wie sich der Volkssturm als "moderne und gut bewaffnete Organisation bewährt". Plakativ hieß es: "Volkssturmmänner - Die Armee von Deutschlands größten Idealisten."
Auch in Hameln wurden Volkssturm-Kompanien aufgestellt. Am 12. November, einem Sonntag, legten um 9 Uhr mehrere tausend Männer auf dem mit Tannengrün geschmückten Sedanplatz ihren Treueid ab: "Ich gelobe, dass ich für meine Heimat tapfer kämpfen und lieber sterben werde, als die Freiheit und damit die soziale Zukunft meines Volkes preiszugeben." In jeder Woche sollte fortan ein halber Tag Dienst getan werden. Doch die Motivation war gering. Als die US-Panzer heranrückten, verließen die meisten Volkssturmmänner die von ihnen errichteten Sperren, warfen ihre Waffen fort, sofern sie welche besaßen - und gingen nach Hause.
Josef Urbaniak, damals Arbeiter im Hamelner Rüstungswerk Domag, schildert, wie er zum Volkssturm eingezogen werden sollte:
"Das war der Tag vor der Besetzung Hamelns. Um 11 Uhr bin ich von der Domag weggegangen, da hörte ich schon den Kanonendonner da irgendwo in Barntrup. Ich wollte nur weg aus dem Bau, weil ich wusste, die Amerikaner sind nicht weit von hier weg. Übrigens habe ich jeden Abend Schwarzsender gehört; da wusste ich immer Bescheid. Ich komme hier nach Haus, auf einmal kommt der Unteroffizier vom Volkssturm. Ich sage zu meiner Frau: 'Du, der will mich jetzt holen. Ich geh in den Keller, und du sagst, ich wäre auf der Domag eingesetzt. Ich bin nicht zu Hause.' Da sagt der zu meiner Frau - ich hörte das ja unten: 'Urbaniak, Josef, der soll zum Volkssturm kommen. Wir treffen uns in der Rattenhöhle auf der Pyrmonter Straße.' Meine Frau sagt: 'Mein Mann ist nicht da, der ist auf der Domag eingesetzt beim Roten Kreuz.' Da ist der weg."
Urbaniak ging zu seinem Nachbarn, der bei der Papierfabrik Wertheim in Wangelist arbeitete. "Ich sage: 'War der vom Volkssturm hier?' - 'Ja, ich bin aber vom Volkssturm befreit. Weißt du, was ich machen soll? Ich soll die Fabrik da anstecken.' Ich sage: 'Bist du verrückt!? Du steckst hier keine Fabrik an! Pack dir Brot, so viel, wie du hast, und Wurst in einen Handwagen und wir hauen ab in den Wald.' Und da sind wir mit Kind und Kegel da unten hin. Wie wir dahin kommen, sind da schon 100 Frauen und Kinder und Soldaten, die ihre Gewehre weggeworfen hatten. Es war ungefähr 4 Uhr am Nachmittag. Und dann kam die Nacht. Da hörten wir das Rasseln von den Panzern. Nachts um 3 Uhr eine Detonation. Da sag ich zu Wilhelm: 'Weißt du, was die jetzt gemacht haben? Die haben die Brücke gesprengt.' Nach fünf Minuten die nächste. Ich sage: 'Jetzt brauchen wir vorm Volkssturm keine Angst mehr zu haben.' Ja, das war gefährlich. Die könnten einen auf der Stelle erschießen, weil man nicht angetreten ist."
In der Zivilbevölkerung herrschten damals verbreitet Untergangsstimmung und Schicksalsergebenheit. Bombenangriffe und der pausenlose Luftalarm hatten die Menschen zermürbt. Der Befehl, alle Industrieanlagen und die gesamte Infrastruktur zu zerstören und dem Feind nur "verbrannte Erde" zu hinterlassen, war von Hitler am 19. März 1945 gegeben worden. Rüstungsminister Speer hatte versucht, die Ausführung des Befehls, der dem Volk die Lebensgrundlage rauben sollte, zu hintertreiben. Es ist gesichert, dass in Hameln fanatische Parteiführer versucht haben, den Befehl durchzusetzen und Werksanlagen zu sprengen. Dazu gehörte Kreispropagandaleiter Heinrich Brodhage. Er wurde 1948 in Detmold zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt - unter Anrechnung seiner vorausgegangenen Lagerhaft.
Lesen Sie am Montag: Flucht in den Süntel / Die Amerikaner in Tündern.
02./03.04.2005
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