Dewezet ,
01.04.2005 :
Die meisten hätten wohl überleben können / Doch im Hamelner Zuchthaus herrschten unsägliche Zustände / Kaum Behandlung im Krankenbau
Von Bernhard Gelderblom
Hameln. Gegen Kriegsende herrschten im Zuchthaus Hameln durch totaleÜberbelegung und Vernachlässigung derart katastrophale Bedingungen, dass in den Monaten vor und nach der Befreiung über 390 Männer zu Tode kamen. Monatelanger Hunger, fehlende Heizung und die katastrophale medizinische Versorgung forderten viele Menschenleben. Im Januar 1945 starben 19 Häftlinge, 33 im Februar, 62 im März, 71 im April und noch über 60 im Mai und Juni 1945. In dem alten Bau an der Weser waren vor allem die politischen Gegner der Nationalsozialisten inhaftiert, also Kommunisten und Sozialdemokraten. Mit Kriegsbeginn kamen die "Kriegstäter" hinzu, darunter Männer, die ausländische Sender abgehört oder "schwarz" geschlachtet hatten. Homosexuelle, Juden und Sinti bildeten unter den Häftlingen kleinere Minderheiten. Seit 1942 waren außerdem zahlreiche Widerstandskämpfer aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden im Zuchthaus Hameln inhaftiert.
Häftling war auch Bernhard Huys, Landschaftsmaler aus Worpswede. Wegen Hörens des britischen Rundfunks hatte ihn das Sondergericht Hannover am 7. Dezember 1943 zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Huys hat im Krankenbau des Zuchthauses zunächst als Patient gelegen und später als Pfleger gearbeitet. Die unsäglichen Zustände, die dort herrschten, hat er in einem Text und in kleinen Skizzen festgehalten. Er schreibt:
"In meiner neunmonatigen Lazarettzeit im Zuchthaus Hameln starben in meinem Saal gegen 40 Häftlinge, wohl die Hälfte davon an Lungenentzündung. Nur ein Einziger überstand diese Krankheit. Magen- und Darmkatarrh führte auch oft zum Tode. Ebenso gab es viele Herzkranke und solche, die an Wasser- und Blutvergiftung starben. Ein tschechischer Arzt, Dr. Kusack, wollte den Kranken gern helfen, bekam aber ständig Anschnauzer, weil er den Kranken Medikamente verschrieb, die nach den Behauptungen des Hauptwachtmeisters nicht zu haben waren. Nicht einmal Kohle war für die Durchfallkranken aufzutreiben, desgleichen die einfachen Tees. Ein Tuberkulosekranker, der einige Male sein Bett beschmutzte, wurde noch acht Tage vor seinem Tode furchtbar angefahren. Als sich trotzdem die Beschmutzung wiederholte, wurde er in eine Einzelzelle verlegt, wo er mutterseelenallein verstarb.
Der Wachtmeister Pliege hatte den Namen 'Knochenbrecher'. Er brüstete sich mit diesem Ehrentitel, den er sich in einem Moorlager durch seine Gewalttätigkeiten verdient hatte. Als er eines Tages ein Bett frei haben musste, kam er zu uns herein, ließ den Peter Schneider aus Kiel aufstehen, hieß ihn sich umdrehen, das Hemd aufheben, um dann zu brüllen: "Mit solchen Arschbacken wäre bei mir im Moor keiner im Lazarett geblieben. Anziehen, in den Betrieb, arbeitsfähig." Schneider war ein Gerippe und brach nach einigen Tagen im Betrieb zusammen.
Die Luft im Lazarett war denkbar schlecht. In der Nacht mussten auch im Hochsommer alle Fenster fest verschlossen sein, da die Verdunkelung angebracht werden musste. Was in diesen langen Nachtstunden von abends 6 Uhr bis morgens 7 Uhr für eine Luft herrschte, braucht nicht demonstriert zu werden. Besonders, wenn wie fast immer einige Durchfallkranke und einige mit schwer eiternden Wunden zu den Patienten gehörten.
Der Saal der Tuberkulosekranken war ein besonders furchtbarer Raum. Zwölf Menschen in jedem Stadium dieser Krankheit lagen nebeneinander und bekamen weder besseres Essen noch frische Luft oder Sonne. Sie starben fast alle. Ich erinnere mich besonders eines österreichischen Offiziers, der Abteilungsleiter im Sozialministerium in Wien gewesen war und hier mit übermenschlichen Anstrengungen gegen seine Krankheit ankämpfte, immer wieder auf bessere Lebensbedingungen drang, dafür immer wieder eine rohe Abfuhr erlebte und immer hinfälliger wurde. Ich sehe ihn vor mir, wie er mich morgens beim Kaffeebringen mit großen Augen anblickte und wie seine Lippen allmorgendlich die Frage formten: 'Was Neues? Ist der Krieg bald vorbei?' "Wenn er noch drei Wochen dauert", sagte er mir dann zum letzten Mal, als ich ihn sah, "dann ist es für mich zu spät."
Und er hatte recht, er starb, ohne sein geliebtes Wien, seine Frau und Kinder, deren Foto er ständig versteckt bei sich trug, wiedergesehen zu haben. Starb wie ein Schwerverbrecher, wurde nackt und ungewaschen in einen Sarg mit Hobelspänen gelegt, die noch die Feuchtigkeit des letzten Toten an sich hatten, mit einem Papierhemd bedeckt und unbeweint, weildas für die Frau bestimmte Telegramm zu spät kam.
80 Prozent aller Leute hätten in anderer Umgebung und in besserer Pflege bestimmt ihre Krankheit überstanden. Zweimal in der Woche war ärztliche Untersuchung. Da standen die schon stark fiebernden alten Menschen auf dem kalten, zugigen Flur und warteten auf die Vorführung. Manchmal zwei bis drei Stunden. 'Anlehnen an die Wand streng verboten', stand angeschlagen. Kranke wurden oft zurückgeschickt als Simulanten und kamen deshalb einige Tage später als Schwerkranke ins Lazarett, wenn sie in den Betrieben oder in der Zelle zusammengebrochen waren. Der Arzt machte höchstens alle 14 Tage eine Visite bei uns, die in einer halben Stunde beendet war. Um Sterbende hat er sich nie gekümmert. Musste ich dem Sanitäter helfen, einen Kranken aus der Zelle zu holen, durchquerten wir dabei das Zuchthaus, so stießen wir mitunter auf sehr mitfühlende Beamte, die uns zuriefen: 'Den bringt man gleich zum Abdecker, der ist zum Seifekochen zu schade.'"
Lesen Sie morgen: Hamelns Volkssturm.
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