Mindener Tageblatt ,
21.03.2005 :
Suppe aus Runkelblättern - der Sand knirscht zwischen den Zähnen / Von Arnsdorf in Schlesien nach Nordhemmern: Eine Flucht mit Fliegeralarm, Schulbesuch ohne Bücher, Donnerbalken und Diphtherie
Von Ilse Burmester
Januar 1945: Weihnachten und mein Geburtstag sind vorbei, die Masern abgeheilt. Ständig hören wir Geschützdonner. Bange Frage: Wie lange dauert es noch, bis wir von Arnsdorf wegmüssen? Wir haben Einquartierung bekommen. Im Wohnzimmer oben sind Flüchtlinge aus Oberschlesien, Gutsarbeiter, viele Kinder, Schnitzarbeiten am Treppengeländer.
26. Januar: Zehn Uhr abends kommt die Nachricht: Morgen früh um acht fährt der Zug. Die Eisenbahner haben einen zusammengestellt, einfach so. Man darf nur so viel mitnehmen, wie man tragen kann. Die Federbetten kommen in große Säcke, Tante Kühn bringt meine Käthe-Puppe, aber die darf nicht mit.
Der Teddy wird mit den Betten eingepackt, Bettwäsche nur die Gebrauchte. Die Neue wird eingeschlossen, bald kommen wir ja wieder nach Hause zurück. Papa hat Lebensmittel (Zucker, Grieß, Butterschmalz, Maggiwürfel) zum Bahnhof gebracht. Alle Türen und Schränke werden abgeschlossen. Die Schlüssel habe ich heute noch. 27. Januar: Um acht fährt der Zug los. Muss von Station zu Station gemeldet werden. Wir sind im Gepäckwagen. Es ist sehr kalt, hohe Schneeberge an der Bahnstrecke. In unserem Waggon kann man nicht heizen, also Umzug in einen Viehwaggon. Dort steht ein kleiner Ofen. Sehr viele Leute. Die Fahrt dauert einige Tage.
Zwischenstation in Meerane
Ein Teil des Zuges bleibt in Chemnitz, wir fahren weiter bis Meerane. Alles steht ratlos auf dem Bahnhof. Dann kommt jemand und bringt uns in "Hertels Hotel".
Ein großer Saal voller Menschen. Es gibt etwas zu essen: dicke Graupen. Ein Flüchtlingswart bringt uns zu einer Gaststätte. Gäste raus, Flüchtlinge rein. Die Kinder schlafen auf der Eckbank, die Erwachsenen auf dem Fußboden.
Papa hat die ganzen Lebensmittel bei der Edeka Meerane abgegeben. Dann wird er nochmal Soldat. Mama und ich haben bei dem Gastwirt ein kleines Zimmer. Jede Nacht Fliegeralarm.
Mama und ich haben eine Wohnung bekommen. Herrlich, ein großes Haus, zweiter Stock. Wir haben das Esszimmer, dicke Teppiche, Sofa, Sessel. Mit Küchenbenutzung. Oben unterm Dach die Mädchenkammer zum Schlafen. Alle Familien haben Flüchtlinge aufnehmen müssen.
Ich gehe zur Schule, alles ist fremd. Auch bei Tage oft Fliegeralarm. Auf der anderen Straßenseite ist die Sirene auf dem Dach, jede Nacht sitzen wir im Keller. Angriff auf Dresden, in Meerane fallen auch einige Bomben, die Wände wackeln, alle haben Angst.
Ostern - die Hausbesitzerin hat für mich zwei Ostereier versteckt, eine Kostbarkeit. Lebensmittel gibt es nur auf Marken, wenn überhaupt.
Beim Fleischer gibt es manchmal Wurstbrühe, dann war stundenlanges Schlangestehen dran. Ein Lager mit Textilien wird geplündert, Mama hat sich einen Handwagen geliehen und wir da hin. Ich muss beim Handwagen bleiben, und Mama schleppt raus, was zu kriegen war: Handtücher, Herrennachthemden.
Später wird getauscht: Handtücher gegen Handschuhe.
Die Amerikaner kommen. Wir sitzen alle ängstlich im Keller, aber keine Schüsse, alles ganz ruhig. In den nächsten Tagen fahren Panzer und Jeeps durch die Straßen.
Meerane war amerikanisch, es gibt Grenzprobleme mit den Russen. Dann ein Gerücht: Die Amis übergeben den Ort an die Russen. Aber die neue Besatzung ist auch ganz friedlich, die hatten sich schon ausgetobt.
Lebensmittel sind sehr knapp. Wir pflücken Holunderbeeren zum Suppekochen.
Die Schule hat wieder begonnen, neue Schule, neue Mitschüler, aber keine Bücher und Hefte. Ein Zirkus hat in Meerane das Kriegsende überstanden. Die geben auf dem Schützenplatz eine Vorstellung. Ein Mädchen, mit dem ich oft gespielt habe, arbeitet mit Krokodilen, großes Erstaunen. Aber Mama erlaubt mir keinen Ritt auf dem Kamel oder Elefanten.
Von Papa haben wir durch einen Kameraden Nachricht bekommen. Er war in englischer Gefangenschaft und ist in Nordhemmern (englische Zone).
Im September ist Papa plötzlich bei uns. Er ist schwarz über die Grenze gekommen und will uns holen. In Meerane ist eine Diphtherie-Epidemie ausgebrochen. Am Freitag ist Papa gekommen, sonntags wird Mama krank. Ein alter Arzt sagt, Mandelentzündung, freitags kommt sie mit Diphtherie-Verdacht ins Krankenhaus. Ich darf sie nicht besuchen wegen Ansteckungsgefahr. Am Dienstag kommt Papa vom Krankenhaus: "Wir haben keine Mama mehr. Das Herz war zu angegriffen." Im Kellereingang des Krankenhauses steht der offene Sarg, Papa darf hingehen, ich muss auf dem Hof bleiben.
Beerdigung, Regenwetter. Mamas Sarg darf nicht in die Trauerhalle. Viele Arnsdorfer sind gekommen. Papa und ich stehen allein, und alle gehen sie an uns vorbei und drücken uns die Hand. In die Wohnung dürfen wir nicht, die wird ausgeräuchert. Wir haben noch ein paar Lebensmittel.
Flucht weiter Richtung Westen
Papa besorgt Fahrkarten Richtung Grenze. Wir nehmen nur mit, was wir tragen können. Die Betten bleiben zurück. Die Reise nach Westen beginnt.
In Leipzig stoppen die Russen den Zug, alle Leute aussteigen. Mit der Straßenbahn geht es in ein ehemaliges Russenlager. Die meisten Reisenden sind Evakuierte, die während der Bombenangriffe aus dem Ruhrgebiet nach Sachsen, Thüringen gekommen sind. Die wollen wieder zurück in ihre zerbombten Städte.
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