Nachrichten ,
18.11.2017 :
Tages-Chronologie von Samstag, 18. November 2017
_______________________________________________
www.hiergeblieben.de - Zusammenfassung - Samstag, 18. November 2017
www.eben-ezer.de/Gedenkbuch
_______________________________________________
Artikel-Einträge in der Datenbank:
Mindener Tageblatt, 18./19.11.2017:
Späte Suche nach 70 Jahren
Mindener Tageblatt, 18./19.11.2017:
Erinnerungsarbeit
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Kommentar / Bedenkliche Ideale
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Auch in Lemgo gab es Täter
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Schatten der NS-Zeit fällt auf Eben-Ezer
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Eben-Ezer arbeitet NS-Zeit auf
Westfalen-Blatt, 18./19.11.2017:
"Widerstand an der Grenze zur Kollaboration"
_______________________________________________
Mindener Tageblatt, 18./19.11.2017:
Späte Suche nach 70 Jahren
Filmvorführung und Zeitzeugen-Gespräch mit Natan Grossmann, einem Überlebenden des Lodzer Ghettos
Von Ulrich Westermann
Petershagen (Wes). Auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen wurde im Gymnasium der Dokumentarfilm "Linie 41" gezeigt. Dargestellt wird die Rückkehr eines Überlebenden des Lodzer Ghettos in das heutige Lodz. Dabei handelt es sich um Natan Grossmann, der in München lebt und im September 2017 90 Jahre alt geworden ist. Mit der Produzentin und Regisseurin Tanja Cummings war er im Gymnasium zu Gast.
Menschen kommen zu Wort, die in isolierten Welten in Lodz lebten
An der Filmvorführung und dem Zeitzeugen-Gespräch nahmen 120 Jungen und Mädchen der Q 1 (Jahrgangsstufe 11) und einige Angehörige der Q 2 (Jg. 12) teil. Einmütig war die Einschätzung: "Der Film ist lang, aber nicht langweilig. Die Regisseurin hat einen Blick für Charaktere, die einzigartig und beeindruckend sind." Nach der Vorführung und der Aussprache bildeten sich eine Gruppe um Natan Grossmann.
Begleitet wurde die Veranstaltung von Wolfgang Battermann von der AG Alte Synagoge sowie den Lehrern des Gymnasiums, Berthold Fahrendorf-Heeren (Deutsch und katholische Region) und Steffen Driftmann (Latein und Geschichte). Der Film "Linie 41" über das Konzentrationslager Lodz läuft derzeit in Krakau und auch in Stadthagen, Hannover und München.
Jahrelang hatte Natan Grossmann seine Erinnerungen an die Gefangenschaft im von den Deutschen eingerichteten Ghetto von Litzmannstadt (Lodz) verdrängt. Erst nach 70 Jahren begann er mit der Suche nach seinem Bruder und den Spuren der Eltern, die im Ghetto umkamen. Mitten hindurch verlief die Straßenbahnlinie 41, die von den deutschen und polnischen Einwohnern benutzt wurde und ihnen täglich das Elend vor Augen führte.
Als Jugendlicher verbrachte Natan dort vier Jahre in Gefangenschaft. Je mehr er über seinen Bruder in Erfahrung bringt, desto größer werden die Erinnerungen an die Eltern, sein Schicksal und das Leben und Sterben im Ghetto.
Grossmann wurde 1927 als Sohn eines Schusters geboren. Nach der Umsiedlung in das Ghetto musste er als Kind Zwangsarbeit leisten. Kurz vor der Auflösung wurde er nach Auschwitz-Birkenau und weitere Konzentrationslager deportiert. US-amerikanische Soldaten befreiten ihn am 2. Mai 1945 aus dem Auffanglager Wöbbelin.
Nicht nur Natan Grossmann begibt sich nach Lodz, sondern auch Jens-Jürgen Ventzki. Sein Ziel ist es, Licht in ein dunkles Familiengeheimnis zu bringen, denn sein Vater Werner Ventzki übte dort das Amt des Bürgermeisters aus. Er war ranghoher Nationalsozialist und Verwaltungsjurist. Jens-Jürgen Ventzki bricht mit der Suche nach den Taten und Motiven seines Vaters das Schweigen und Verdrängen in seiner Familie.
Im Zweiten Weltkrieg war Lodz wohl die einzige Großstadt in Europa, in der deutsche, polnische und jüdische Menschen dicht nebeneinander und doch Welten voneinander getrennt lebten. Täglich fuhren Straßenbahnen durch das Ghetto, das im April 1940 eingerichtet wurde und bis August 1944 bestand.
Ziel des Films war es, Menschen zu Wort kommen zu lassen, die im Zweiten Weltkrieg in den isolierten Welten in Lodz lebten. Dabei gelang es, ein bedrückendes Thema lebendig und menschlich darzustellen. "Eine große Aufgabe war es, letzte polnische, jüdische und deutsche Zeitzeugen zu finden, die aus ihrer Perspektiven berichten. Dabei handelte es sich um Opfer der Politik, Menschen der Täterseite und Zeitgenossen, die Zuschauer waren", sagte Tanja Cummings.
Aus unterschiedlichen Welten stammen Natan Grossmann und Jens-Jürgen Ventzki. Während der jüdische Junge knapp dem Tod entging, wuchs der Sohn des Bürgermeisters in einer wohlhabenden Familie auf. Die Regisseurin hat die Männer zusammengebracht, dabei ist eine Freundschaft entstanden. "Ich habe größte Hochachtung vor dem Sohn des früheren Bürgermeisters, der sich auf die Spurensuche begeben hat", bekräftigte Natan Grossmann.
Bildunterschrift: Natan Grossmann (3. v. l.) und Regisseurin und Produzentin Tanja Cummings (3. v. r.) präsentierten im Petershäger Gymnasium den Dokumentarfilm "Linie 41" über das Ghetto in Lodz.
_______________________________________________
Mindener Tageblatt, 18./19.11.2017:
Erinnerungsarbeit
Am Rande des Nordfriedhofs liegt ein Gräberfeld für Zwangsarbeiter / Seit mehr als 20 Jahren sorgt eine Gruppe Mindener dafür, dass auch dieser Verstorbenen am morgigen Volkstrauertag gedacht wird
Von Doris Christoph
Minden (mt). Elisabeth - viel mehr als den Vornamen kennt Magdalene Wichmann nicht von dieser Frau. Und auch er verschwindet langsam, die Buchstaben liegen nur noch wie ein Hauch auf dem Grabstein, ebenso wie das Geburts- und Todesjahr: 1886 und 1944. Wahrscheinlich starb die Unbekannte bei einem Bombenangriff der Alliierten auf den Mittellandkanal. Die Lage ihres Grabes erzählt außerdem: Elisabeth war eine Zwangsarbeiterin.
135 Gräber von so genannten "Ostarbeitern" liegen am Rande des Nordfriedhofs, viele Grabsteine tragen Namen in kyrillischer Schrift, aber auch Holländer, Belgier und Jugoslawen liegen hier, zählt Magdalene Wichmann auf. Dass sie nicht in Vergessenheit geraten, dafür sorgt die Mindener Gruppe des Internationalen Versöhnungsbunds, zu der auch das Ehepaar Wichmann gehört. Wenn am morgigen Sonntag die offizielle Feier zum Volkstrauertag - Beginn ist um 11.45 Uhr - vorbei ist, werden sie die Teilnehmer wieder auffordern, mit zum Gräberfeld zu kommen und Blumen niederzulegen. "Diese Gräber spielten beim Totengedenken am Volkstrauertag keine Rolle", sagt Erhardt Wichmann (83). Dabei seien auch sie Opfer des Krieges.
Das sollte vor 25 Jahren ein Gottesdienst zum Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion in der Martinikirche zeigen, bei dem die Namen der dort bestatteten Russen und Ukrainer verlesen wurden. Initiiert hatte ihn die Gruppe "Senfkorn - Christliche Friedensleute Minden". Außerdem wurden damals Paten für die Gräber gesucht. Seitdem kümmert sich die heute 81-jährige Magdalene Wichmann um Elisabeths letzte Ruhestätte.
Ein Jahr später kam die Gruppe auf die Idee, auch am Volkstrauertag auf dem Nordfriedhof aktiv zu werden. Denn auf die Verstorbenen "in der äußersten Ecke des Friedhofs" wurde nicht eingegangen. "Uns wurde gesagt, dass ja alle Kriegsopfer bei der Kranzniederlegung gemeint seien", sagt Magdalene Wichmann, die als Kind in Bremen Kontakt zu Zwangsarbeitern hatte. Das reichte den Friedensaktivisten aber nicht, die auch den lange Zeit verwendeten Begriff "Ostarbeiter" bemängeln. "Das waren Zwangsarbeiter", sagt Magdalene Wichmann bestimmt.
Und so forderten sie die Teilnehmer der Feier auf, ihnen zu den Gräbern zu folgen. Am Anfang machten das aber nur wenige mit. "Ja, das war nicht reibungslos. Viele wollten nicht mitgehen", bestätigt auch Reinhard Tschapke, Vorsitzender des Mindener Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Doch vieles habe sich mittlerweile geändert. Immer mehr Menschen schließen sich dem Gang zum Gräberfeld an, darunter auch der Bürgermeister und der Landrat.
Und auch an den Gräbern hat sich etwas getan: Vor ein paar Jahren hat Tschapke zusammen mit Zehntklässlern der Freiherr-von-Vincke-Realschule Schilder mit Übersetzungen der kyrillischen Namen aufgestellt. Irgendwann sollen Wegweiser zu den Gräbern führen. Gerne würde Tschapke auch die Schriftzüge nachziehen lassen, so wie auf den Grabsteinen der Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. "Das ist aber ein hoher Kostenpunkt."
Auch am Sonntag wird wieder eine Gruppe zum Gräberfeld gehen, wo der ehemalige Pfarrer Wichmann eine kurze Rede hält, dann werden die Blumen niedergelegt. Eine kleine Gruppe von Helfern bindet die rund 140 Gestecke am heutigen Samstag zwischen 14.30 und 17 Uhr - zum mittlerweile 22. Mal. Wer mitmachen möchte, kann sich bei Wichmanns melden unter der Telefonnummer (0571) 56400. Eines der Gestecke ist dann auch wieder für Elisabeth reserviert.
Bildunterschrift: Erhardt und Magdalene Wichmann haben Patenschaften für einige der Gräber auf dem Nordfriedhof übernommen, in denen verstorbene Zwangsarbeiter bestattet wurden.
Bildunterschrift: Grab eines Zwangsarbeiters auf dem Nordfriedhof.
_______________________________________________
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Kommentar / Bedenkliche Ideale
Marlen Grote sieht in der Vernichtung "unwerten Lebens" durch die Nazis eine Mahnung.
Seite 18
Eben-Ezer stellt sich der Vergangenheit. Eine Stele erinnert an Opfer der NS-Zeit, die aus der Lemgoer Anstalt stammen. Ein wichtiger Schritt. Niemand darf vergessen, dass einst "unwertes Leben" vernichtet wurde - denn dieser Gedanke droht klammheimlich in unsere Mitte zurückzukehren.
Die grauenvolle Maschinerie der Vernichtung lässt schaudern. So etwas darf es nie wieder geben, da sind sich alle einig. Am Anfang der Entscheidung, ob ein Leben "unwert" sei, standen Gutachten. Solche wurden, das ist ein Ergebnis der Aufarbeitung, auch in Eben-Ezer erstellt - mit menschenverachtendem Vokabular und verheerenden Folgen. Aber auch heute gibt es bedenkliche Ideale.
Der Anspruch, dass ein Mensch perfekt sein soll, ist keine Vergangenheit, sondern ein aktuelles Problem unserer heutigen Gesellschaft. Die moderne Medizin mit pränataler Diagnostik und Gentechnik eröffnet dafür viele Möglichkeiten. Auch so entstehen Diagnosen, die "fehlerhaftes" Leben in Frage stellen. Eine Entwicklung, die - gerade angesichts des Fortschritts - ziemlich unheimlich ist.
Die Medizin stellt die Methoden bereit, aber sie beantwortet nicht die ethischen Fragen. Deshalb mahnt der Blick zurück auch zur kritischen Sicht auf das Jetzt: Wie viel ist ein behinderter Mensch uns heute wert? Die Antworten sind widersprüchlich.
mgrote@lz.de
_______________________________________________
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Auch in Lemgo gab es Täter
"Euthanasie": In Eben-Ezer entstanden Gutachten, die die Zwangssterilisation zur Folge hatten
Lemgo (mag). War Eben-Ezer ein Zufluchtsort für Menschen mit Behinderungen während der NS-Zeit? Die Aufarbeitung der Vergangenheit der Stiftung hat gerade erst begonnen. Doch es zeigt sich schon jetzt: Das Gedankengut der "Rassenhygiene" hatte auch Lemgo erreicht.
Denn neben Massenmorden des Nazi-Regimes an Behinderten wurde nachweislich auch in Lemgo mit Zwangssterilisation sichergestellt, dass sich der "Schwachsinn" im "Deutschen Volk" nicht weiter ausbreitete. Davor standen Gutachten, die über den Wert der Menschen entschieden. Diese erstellte in Eben-Ezer der Anstaltsarzt Dr. Max Fiebig. "Die Gutachten haben mich erschreckt", berichtet Heinrich Bax von seinen Nachforschungen, sie seien "menschenverachtend". Mit Folgen: Für Bewohner von Eben-Ezer wurden in Detmold 78 Anträge auf Zwangssterilisation gestellt, 68 Eingriffe wurden ausgeführt. Vermutlich sogar noch mehr, denn in Detmold wurden nur die Bewohner erfasst, die aus Lippe stammten. "Anscheinend gab es von Seiten der Leitung keinen Widerstand", sagt Bax. Opfer der Sterilisationen waren Jugendliche aus benachteiligten Familien, die schlechte schulische Leistungen vorwiesen und verhaltensauffällig waren. Einen Beitrag zur Bewertung der "Brauchbarkeit" der Menschen, der über Sterilisation und später zumindest im Fall der verlegten Bewohner auch über Leben und Tod entschied, leistete auch Herbert Müller, Hilfsschullehrer und später Anstaltsleiter von Eben-Ezer. Er stufte die Intelligenz der Menschen mit IQ-Tests ein. Das Maß seiner Schuld soll nun ebenfalls erforscht werden, stellt Udo Zippel, Vorstand von Eben-Ezer, in Aussicht.
Dr. Fiebig ging schließlich aus Sicht der damaligen Anstaltsleitung doch zu weit. Als er die Zwangssterilisation einer jungen Schwangeren anordnete, wurde er aus Eben-Ezer entlassen. Dennoch bleibt die NS-Zeit für die Stiftung ein dunkles Kapitel - es gab viele unklare Todesfälle wegen "Mangelernährung". Ob sie allein der schlechten Versorgungslage im Krieg geschuldet waren oder hier auch Morde geschahen, muss ebenfalls noch erforscht werden.
_______________________________________________
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Schatten der NS-Zeit fällt auf Eben-Ezer
"Euthanasie": Auch Bewohner der damaligen Heilanstalt sind Opfer der Nationalsozialisten geworden / Eine neue Stele erinnert an 36 Menschen, die in andere Anstalten verlegt und später ermordet wurden
Von Marlen Grote
Lemgo. 36 Namen stehen auf einer neuen Stele vor der Kapelle in Alt Eben-Ezer. Die Geschichte der Menschen, an die sie erinnert, haben die Zuhörer am Freitag bei einem Fachtag erfahren: Sie wurden aus den Gebäuden der damaligen Lemgoer Heilanstalt nach Warstein verlegt - und von da führte ihr Weg in den Tod.
Insgesamt waren 106 Menschen aus Eben-Ezer verlegt worden, davon 64 im Jahr 1937 nach Warstein. Schon der ehemalige Leiter der Anstalt, Berend Groeneveld - der in diesem Jahr gestorben ist - vermutete, dass einige von ihnen der Vernichtungsmaschinerie der Nazis zum Opfer gefallen sein könnten: "So liegt der finstere Schatten jener Mordaktionen auch auf der Stiftung Eben-Ezer", zitierte ihn der Haupt- und Sonderschullehrer Heinrich Bax, der der Spur der 64 Menschen nachgegangen ist. Seine Erkenntnisse haben die Befürchtungen bestätigt: Zwölf aus Lemgo verlegte Bewohner starben in Warstein, 36 in der Tötungsanstalt Hadamar in Hessen, fünf überlebten, das Schicksal von weiteren elf Menschen ist ungewiss.
Den Zuhörern des Fachtags berichtete Bax, wie es dazu kam. Verlegt wurden Bewohner, die nicht aus dem damaligen Freistaat Lippe stammten. Die Anstaltsleitung sei dagegen gewesen, aber wohl aus wirtschaftlichen Gründen, denn die Kapazitäten der Lemgoer Anstalt waren auf 300 Plätze aufgestockt worden. Die Bewohner aus der westfälischen Nachbarschaft brachten auch Geld ein.
Gegen diese Einwände wurden dennoch 64 Menschen am 8. April 1937 nach Warstein in die dortige "Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt" abtransportiert. Einige starben schon hier. 1940 lief dann die Vernichtung von Menschen mit Behinderungen richtig an, die Nazis gründeten sechs Tötungsanstalten - eine davon: Hadamar. Dort wurden die Behinderten mit Kohlenmonoxid vergast. Bax hat die noch erhaltenen Teile der Anlage besucht: "Das war erschütternd", berichtet er.
Nazis mordeten mit Kohlenmonoxid
In Hadamar gab es keine Betten, die Menschen wurden direkt am Tag ihrer Ankunft getötet - bis 1941 eine Predigt des Bischofs von Münster dieses Vorgehen als "Mord" verurteilte und Hitler tatsächlich bewog, die Anstalt zu schließen. Für die da noch lebenden Menschen aus Eben-Ezer war das aber keine Rettung. Der Weg in den Tod führte über Zwischenanstalten, und als die Tötungen gestoppt wurden, waren diese überfüllt. Mangelernährung und Medikamente führten zu Ende, was das Regime begonnen hatte - in vielen Fällen vermutlich absichtlich. Aber die Akten, so Bax, vermerken meistens Krankheiten als Todesursache.
Auch Hadamar wurde wieder in Betrieb genommen, obwohl die Gaskammer stillgelegt war. Schlafräume wurden eingerichtet, aber es blieb ein Ort des Todes: Jetzt starben die Bewohner auch hier vorgeblich an Erkrankungen oder Mangelernährung.
Gestern stellte der Historiker Dr. Frank Konersmann die Biografien von 37 ehemaligen Bewohnern von Eben-Ezer vor. Zu den 36 Opfern hatte er noch eine Frau hinzugestellt, deren Mutter einen Briefwechsel mit der Anstaltsleitung geführt hatte. Die Schicksale werden mit Fotos und Lebensläufen greifbar - als Menschen, nicht nur als Opfer, betont Konersmann. Die Biografien werden auf der Homepage der Stiftung veröffentlicht. Professor Hans-Walter Schmuhl legte zudem die Vernetzungen der Heilanstalten Eben-Ezer, Bethel und Wittekindshof dar, und zum Abschluss ergriff Margret Hamm von der Arbeitsgemeinschaft Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten das Wort. Die Stele wird am Sonntag ab 10 Uhr feierlich vorgestellt. Danach findet ab 10.30 Uhr ein Gottesdienst in der Kapelle Alt Eben Ezer statt. Die Forschungen sind indes noch nicht abgeschlossen.
Kommentar Seite 10
Siehe Text unten
Bildunterschrift: Gedenken der Opfer: (von links) Heinrich Bax, Margret Hamm, Dr. Frank Konersmann, Professor Hans-Walter Schmuhl, Dr. Bartolt Haase (Vorstand Eben-Ezer), Landessuperintendent Dietmar Arends, Udo Zippel (Vorstand Eben-Ezer) und Helmut Monzlinger aus Warstein an der neuen Stele.
_______________________________________________
Lippische Landes-Zeitung, 18./19.11.2017:
Eben-Ezer arbeitet NS-Zeit auf
Lemgo. Auch Behinderte aus Lemgo fielen den Nazis zum Opfer. Eine Stele erinnert an sie.
Seiten 10 und 18
_______________________________________________
Westfalen-Blatt, 18./19.11.2017:
"Widerstand an der Grenze zur Kollaboration"
Wie OWL mit der NS-"Euthanasie" umging - Gedenken in Lemgo
Von Bernd Bexte
Lemgo (WB). Von der Obhut des Heimes in den staatlich verordneten Tod: Auch hunderte behinderte Menschen aus OWL wurden Opfer der "Euthanasie" der Nazis - trotz (versuchten) Widerstandes vor Ort. In Lemgo wird ihrer jetzt gedacht.
Zum Beispiel Karoline Uhle. 1904 in Westheim (Kreis Büren, heute Marsberg) geboren, lebt sie seit 1916 in der evangelischen Pflegeeinrichtung Eben-Ezer in Lemgo. Diagnose: "Schwachsinn". Hier ist die junge Frau vor allem in der Schälküche beschäftigt. Bis zum 8. April 1937: Dann wird sie mit 63 anderen Eben-Ezer-Patienten in die staatliche Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt nach Warstein verlegt. Später sollen die 34 Frauen und 30 Männer so genannten Zwischenanstalten überstellt werden, bis ihnen spätestens in einer der sechs Tötungsanstalten des Reiches der "Gnadentod" droht. Die Betroffenen ahnen ihr Schicksal: "Ihr wollt uns kaputt machen", sind Äußerungen von Patienten auf dem Weg in die berüchtigte Tötungsanstalt Hadamar (Hessen) überliefert. "Ungeheilt" steht in ihren Patientenakten. "Unheilbar" bedeutet das für die Nazis, was ihrem Weltbild entsprechend einem Todesurteil gleichkommt. Am 16. November 1944 stirbt Karoline Uhle in Hadamar. Offizielle Todesursache: "Lungenentzündung".
36 Menschen der Eben-Ezer-Gruppe sind laut aktuellen Forschungen nachweislich Opfer der "Euthanasie" geworden. Ihre Verlegung aus Lemgo jährt sich in diesem Jahr zum 80. Mal. Dort wird ihrer jetzt gedacht (siehe "Stele mit Namen erinnert an Opfer aus Lemgo"). Heinrich Bax, einst Förderschullehrer in Oerlinghausen, hat in vielen Archiven recherchiert. Was bislang nur eine "beunruhigende Vermutung" (Zitat aus einer Eben-Ezer-Festschrift von 1987) war, ist nun Gewissheit. "Allein 21 der 64 Patienten aus Lemgo wurden wohl in Hadamar ermordet", sagt Bax - vergast mit Kohlenmonoxid, durch Medikamenteneinsatz oder Mangelernährung getötet. Zwölf weitere sterben bereits in Warstein. "Heute morgen Exitus", heißt es lapidar in der Akte von Otto Schlüter, der nur 24 Jahre alt wird.
"Ihr wollt uns kaputt machen!"
Überlieferte Äußerungen von Patienten auf dem Weg in die Tötungsanstalt Hadamar
Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, Historiker an der Uni Bielefeld, hat zum Thema NS-"Euthanasie" in OWL geforscht. Neue Ergebnisse trug er am Freitag auf der Tagung "Gegen das Vergessen" in der diakonischen Einrichtung Eben-Ezer vor. Sein Urteil: Die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in Bielefeld sind damals ein "Zentrum der Obstruktion", also ein Hort des Widerstandes, dem sich auch Eben-Ezer sowie der Wittekindshof in Bad Oeynhausen als weitere Einrichtungen der Inneren Mission zumindest teilweise anschließen.
Obwohl in Bethel Patienten zwangssterilisiert werden, weigert sich Friedrich von Bodelschwingh im Juni 1940 zunächst, von den Nazis zugesandte Meldebögen zur Vorbereitung des Massenmordes auszufüllen. "Er hoffte wohl auf ein nahes Kriegsende und damit auf das Ende des "Euthanasie"-Programmes", sagt Schmuhl. Das Kalkül des Bethel-Chefs: Der NS-Staat werde eine offene Konfrontation vermeiden, schließlich handele es sich bei der Mordaktion um eine Geheime Reichssache. Auch Eben-Ezer verweigert sich, am Wittekindshof füllt man pflichtgetreu 1.250 Meldebögen aus, hält sie aber zurück. Zwischen den drei Anstandsleitungen besteht ein "loser Informationsaustausch" - mit offenen Worten. So schreibt Eben-Ezer-Leiter Herbert Müller an seinen Kollegen vom Wittekindshof, Pastor Theodor Brünger, man wolle "den Kranken ein Anwalt sein".
All das führt zu einem moralischen Dilemma: "Es war ein teilnehmender Widerstand an der Grenze zur Kollaboration", meint Schmuhl. Denn schon im September 1940 folgt Bethel dem Geheiß des NS-Staates und füllt 4.000 Patienten-Meldebögen aus, überlässt einer ärztlichen Kommission aus Berlin die Begutachtung der Patienten. "Friedrich von Bodelschwingh wollte erneut Zeit gewinnen", urteilt Schmuhl. Die Kommission selektiert auch andernorts. "Was wird nun kommen?", schreibt Wittekindshof-Leiter Theodor Brünger mit großer Sorge an Bodelschwingh, nachdem die Abordnung aus Berlin Patienten in Bad Oeynhausen untersucht hat.
Ende August 1941 stoppt Adolf Hitler offiziell das "Euthanasie"-Programm. Der Widerstand in der Bevölkerung gegen die "Vernichtung unwerten Lebens" (NS-Jargon), angestachelt durch die Predigten des Münsterschen Kardinals Clemens Graf von Galen, erscheint ihm offenbar zu gefährlich. Dezentral und im Verborgenen, meist durch Nahrungsentzug, geht das Morden jedoch weiter.
Im Herbst 1941 wird der Wittekindshof zum großen Teil geräumt. "958 von 1.326 Patienten wurden abtransportiert. 358 starben in der Folgezeit mit Sicherheit", bilanziert Schmuhl. Bethel und Eben-Ezer bleiben verschont. Dem "Euthanasie"-Programm der Nazis fallen mehr als 70.000 Menschen zum Opfer.
Bildunterschrift: Blick in die Sonderschule in Eben-Ezer (1937), rechts Lehrer Herbert Müller, von 1939 bis 1969 Anstaltsleiter. Die Schule wurde als "Sammelbecken für Schwachsinnige" bezeichnet, Schüler wurden zwangssterilisiert.
Stele mit Namen erinnert an Opfer aus Lemgo
Vor der Kapelle Alt Eben-Ezer ist eine Stele mit 36 Namen von "Euthanasie"-Opfern errichtet worden, die vor ihrer späteren Verlegung in der Lemgoer Einrichtung lebten. An diesem Sonntag (10 Uhr Vorstellung der Stele, 10.30 Uhr Gottesdienst mit dem lippischen Landessuperintendenten Dietmar Arends) wird der Menschen gedacht. Historiker Frank Konersmann hat von den ehemaligen Eben-Ezer-Bewohnern Biographien erstellt. Diese sind in einem digitalen Gedenkbuch unter www.eben-ezer.de/Gedenkbuch zu lesen.
Bildunterschrift: Diese Stele aus Stahl erinnert an die Opfer aus Eben-Ezer.
_______________________________________________
|