Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische ,
19.03.2005 :
Junge, lauf so schnell Du kannst / Vier Paderborner Freunde erinnern sich an den Bombenangriff am 22. März 1945
Von Jutta Steinmetz
Paderborn. Diesen Ruf zweier älterer Damen, den Josef Neuwöhner am 22. März 1945 hörte, wird er sein Leben lang nicht vergessen: "Junge, lauf so schnell Du kannst!" Nur knapp konnte der heute 74-Jährige an diesem Abend dem Tod entkommen. Bis kurz vor 21 Uhr hatte er damals bei einer Jugendmesse im Dom seinen Messdienerdienst versehen, um dann fix nach Mastbruch zurückzukehren, wohin die Paderborner Familie seit einigen Tagen evakuiert war.
Durchs Domgäßchen rannte der 14-Jährige gerade, als die Luftmine im Pürting des Doms einschlug und dort 14 junge Menschen ums Leben brachte. Der Luftdruck hatte ihn dort niedergeworfen und an die Mauer gedrückt. "Der Knick, den die Gasse macht, hat mich wohl gerettet", mutmaßt Neuwöhner heute, der damals angetrieben durch den Ruf der beiden Frauen, die gleichfalls durch das Sträßchen flüchteten, weiter um sein Leben rannte. Ersten sicheren Schutz fand der Junge zunächst unter einem Türbogen, dann im Keller des Hotels an der Ecke Heierstraße/Krämerstraße. "Dort verkroch ich mich einige Minuten hinter einem Wasserbehälter", erinnert er sich. Doch nach einiger Zeit machte sich Josef Neuwöhner weiter auf den Weg zur Pesag, seinem Ausbildungsbetrieb. "Da erst fühlte ich mich sicher", berichtet er.
Der Druck der Minen war ungeheuer
"Das waren schwerste Bomben", ergänzt sein Freund Heinrich Schütte, der 14-jährig den Luftminenangriff im Keller seines Elternhauses in der Cheruskerstraße erlebte. "Der Druck war ungeheuer", charakterisiert auch Bernhard Sendler (Jahrgang 1930) den verheerenden Luftminenenangriff. Damals sei er zuhause gewesen, im dritten Stock Heierstraße 29, berichtet er. Also gar nicht weit vom Dom entfernt. Die Familie hörte gerade Volksempfänger. Als die Mine fiel, sei er beim Anziehen der Schuhe vornübergefallen, weiß er noch genau. Blitzschnell sei die Familie in den Keller gerannt, er sei aber das Treppengeländer heruntergerutscht, lächelt Sendler. Ohne an die Gefahren nur im Geringsten zu denken. Die Mine hatte nämlich in den umliegenden Häusern Scheiben und Türen umherfliegen lassen und so in den Häusern für ein gefährliches Chaos gesorgt.
"Angst vor der Gefahr hatte man so gar nicht", meint Neuwöhner und kann sich daran erinnern, dass er so manches Mal, obschon Alarm herrschte, im Keller fehlte. "Aber nach dem 17. Januar 1945 sind wir wach geworden", sinniert Willi Ahle. Bei diesem ersten schweren Angriff des Jahres 1945 war sein Elternhaus am Jühenplatz zur Hälfte zerstört worden. Während die Mutter nach Bökendorf umzog, blieben der damals 15-jährige Junge und seine Schwester im unversehrt gebliebenen Keller, um die letzten Besitztümer zu hüten. So auch am 22. März 1945.
Von normaler Jugend also keine Spur. Josef Neuwöhner und Willi Ahle waren als Melder oft mitten in der Nacht noch auf den Beinen. Und die Schule? Die hatte Willi Ahle schon seit 1944 nicht mehr von innen gesehen. Dann nämlich musste er wie viele Gleichaltrige Rollbahnen für die Luftwaffe bauen. "Man war abends so müde, dass einem die Augen zufielen", erinnert sich Ahle und betont: "Wir kamen gar nicht zum Nachdenken." Angst habe man aber doch gehabt. "Du musstest allein damit fertig werden", erklärt Bernhard Sendler. "Es war ja keiner da, der zuhörte."
Gespräche über die militärische oder politische Situation waren selten. Die Eltern hätten sich mit Erzählungen und Kommentaren zurückgehalten, erinnert sich Sendler. Und Josef Neuwöhner ergänzt: "Wenn man hören wollte, was wirklich los war, dann hörte man Feindsender mit der Decke über dem Kopf. Das musste man aber sofort wieder vergessen." Willi Ahle umreißt das ständige Misstrauen: "Man wusste ja nie." Und "es geisterte noch herum, dass die Wunderwaffe kommt", berichtet Neuwöhner. Die Durchhalteparolen auch des deutschen Militärs kann Sendler nicht verstehen. "Die wussten doch alle, dass es vorbei ist", meint er kopfschüttelnd. "Und trotzdem..."
Die vier wissen von vielen Ablenkungsmanövern der Nazis zu berichten. Vom "offenen Tag der Wehrmacht", an dem die Jungs mit im Panzer fahren durften, vom verordneten Heilkäutersammeln ("Die hat ja keiner an der Front gekriegt", so Sendler). Davon, dass in der Schule genau abgefragt wurde, ob die Knaben auch ja in der Hitlerjugend oder bei den Pimpfen sind.
Auch das straffe Nazitum in der Schule selbst hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Da hieß es morgens, klassenweise den Hitler-Gruß zu üben. Bei fehlender Zackigkeit habe es Beschimpfungen speziell eines Lehrers gehagelt, schildern Ahle und Schütte.
Und immer wieder der Krieg. In der Schule wurden der Umgang mit der Gasmaske und das Verhalten beim Luftangriff geübt. Mit Spiel und Spaß hatte das aber gar nichts zu tun. Insbesondere im März 1945 häuften sich die Angriffe mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm – Angst war an der Tagesordnung. "Erlösung war, wenn es knallte, dann hat man gewusst, dass man überlebt hat", meint Willi Ahle nachdenklich. Nach den Angriffen sei es immer totenstill gewesen.
Auf das Haus von Wilhelm Cramer war eine Luftmine gefallen
So auch am 22. März 1945. Josef Neuwöhner wurde im Keller der Pesag von seinem Vater aufgestöbert. Dieser hatte in Mastbruch den Angriff gehört und war in die Stadt geeilt, um den Sohn zu suchen. Heinrich Schütte ging mit einem Polizisten zur Heierstraße. Auf das Haus von Wilhelm Cramer war eine Luftmine gefallen und hatte die Familie des Malermeisters verschüttet. "Da war die Nothilfe schon da", erinnert sich Schütte. Währenddessen atmete Willi Ahle zusammen mit der Schwester erstmal tief durch und sah nach, was dieses Mal von den wenigen Besitztümern noch heil geblieben war. Gleiches tat auch Bernhard Sendler. Er kehrte in die Wohnung zurecht und flickte notdürftig allerlei zurecht,während sein Vater in der Heierstraße half, die verschüttete Familie Cramer zu bergen. Von der alteingesessenen fünfköpfigen Familie überlebten diesen Angriff, bei dem in Paderborn mehr als 40 Menschen starben, nur zwei Töchter.
19./20.03.2005
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