www.hiergeblieben.de

Neue Westfälische , 19.03.2005 :

60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / "Ich werde überall eine Fremde sein ... " / Viele Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetisch besetzten Zone entschließen sich zur Weiterreise in den Westen

Vor 60 Jahren am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. Viele Menschen erinnern sich der schrecklichen Zeit. In einer Serie, die der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk zusammengestellt hat, berichten wir über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen. Unsere Zeitzeugen leben heute in Ostwestfalen-Lippe.

Heute lesen im Teil 6 über Ankunft im Westen.

Im März 1946 lief die erste große und durchorganisierte Aufnahme von Vertriebenen aus "Neu-Polen" in der britischen Zone an. Die Alliierten nannten die Aktion "Honeybee". Es galt, 85.000 Menschen auf die einzelnen Kommunen zu verteilen. Die nachfolgende Aktion "Swallow" sah die Unterbringung von einer Million Menschen vor. 200.000 sollten in der ehemaligen Provinz Westfalen Obdach finden. Um das Vorhaben "menschlicher" zu gestalten, waren dafür die Frühlings- und Sommermonate vorgesehen. Der Transport, die Ankunft und die Aufnahme der Menschen im Westen verliefen nicht ohne Probleme.

Die Bielefelderin Annemarie Köhler weiß in dem Zusammenhang über ihre Mutter, die im August 1946 Schlesien verlassen musste, Folgendes zu berichten:

"Die Fahrt mit der Bahn, in Viehwaggons, dauerte von Freiburg in Schlesien bis Bielefeld ca. eine Woche. In Bielefeld wurde meine Mutter mit meinen Geschwistern zunächst im Bünder-Bunker (gemeint ist offenbar der ehemalige Luftschutzbunker Am Kampfhof - Anm. d. Verf.) untergebracht. Später wies man ihr ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer in der Meller Straße 68 zu. ... Es gab kein Wasser. Das musste von der ersten Etage geholt werden. ... Im Winter waren die Wände im Zimmer meiner Mutter voller Eis. ... Es war eine schwere Zeit. Besonders allein stehende Frauen hatten es nicht leicht. Mein Vater war früh gestorben, und die kleine Rente reichte kaum zum Überleben. ... In dieser Zeit gab es auch viel gegenseitige Hilfe. Vor allem die Vertriebenen hielten zusammen."

Noch lange Jahre trafen in den Westzonen Vertriebene und Flüchtlinge ein. Viele hatten "Zwischenstation" in der SBZ, der "Sowjetisch Besetzten Zone" gemacht und dort versucht, eine Existenz aufzubauen. Nicht wenige waren jedoch unter den Bedingungen des Sozialismus ostdeutscher Prägung gescheitert oder lehnten diesen grundsätzlich ab und bereiteten sich deshalb auf eine erneute Flucht vor. Zu ihnen gehörte auch Irmgard Hübert, 1922 im damaligen Freistaat Danzig geboren, die sich nach ihrem Krankenschwester-Examen aus der "Ostzone" absetzte. Sie lebt heute in Espelkamp: "Daraufhin konnte ich hier im Westen in Delmenhorst als Krankenschwester arbeiten. ... Um mit Vater wieder zusammen ein Zuhause zu haben, siedelte ich in die Flüchtlingsstadt Espelkamp um, ließ mich bei einem Zahnarzt als Sprechstundenhilfe anstellen und holte Vater ebenfalls hierher. Etwa ein Jahr später wurde uns endlich eine Mietwohnung auf Grund unseres Flüchtlingsausweises A (besetzte Ostgebiete) zugeteilt."

Die Bielefelderin Ursula Fisahn, im Dezember 1924 in Ostpreußen geboren, entschied sich nach der Ablegung des pharmazeutischen Vorexamens im Jahre 1947 in der SBZ zur erneuten Flucht. Sie konnte sich ein Leben "unter dem Kommunismus" nicht vorstellen. Nach ihrer Ankunft im Gebiet der späteren Bundesrepublik überdachte sie noch einmal ihren Schritt:

"Ich bin sehr zuversichtlich und von der Richtigkeit meines Entschlusses überzeugt, Plauen in der SBZ verlassen zu haben. Nach dem Verlust meiner ostpreußischen Heimat werde ich überall eine Fremde sein, aber wenn schon fremd und heimatlos, dann da, wo es erträglich ist, fremd zu sein."

Die meisten Neuankömmlinge konnten nicht ahnen, wie schwer es einigen von ihnen gemacht wurde, im Westen gesellschaftlich und ökonomisch akzeptiert zu werden. Mehr am Montag.

19./20.03.2005
redaktion@neue-westfaelische.de

zurück