Neue Westfälische ,
18.03.2005 :
60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / "Mütter wussten nicht, wo sich ihre Kinder befanden" / Nach dem Kriegsende Zwangsarbeit für die Besatzer - Wer nicht floh, war schweren Drangsalierungen ausgesetzt
Vor 60 Jahren am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. Viele Menschen erinnern sich der schrecklichen Zeit. In einer Serie, die der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk zusammengestellt hat, berichten wir über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen. Unsere Zeitzeugen leben heute in Ostwestfalen-Lippe.
Heute lesen Sie Teil 5.
Bielefeld. Trotz Flucht und Vertreibung verblieb eine größere Anzahl von Deutschen in ihrer Heimat. Einige hatte sich bereit erklärt, die polnische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Andere wurden dagegen als billige Kräfte zu Zwangsarbeiten verpflichtet. Auf familiäre Bande nahm man keinerlei Rücksicht.
Arthur Plitt, 1931 im Kreis Sichelberg (Sierpc) in Südosteuropa geboren und heute in Lemgo zuhause, erzählt, wie es seiner Familie erging: "Am nächsten Morgen hat uns dann die polnische Miliz mit unseren letzten Habseligkeiten abgeholt und nach Gojsk gebracht. Hier begann das uns Deutschen zugedachte Martyrium. ( ... ) Alle wurden registriert und die Familien auseinander gerissen und zu Arbeiten, kleinere Kinder zum Vieh hüten, an die Polen verteilt. Mit der Drohung, bei Ungehorsam und etwaiger Entfernung vom zugewiesenen Hof bestraft oder nach Russland abtransportiert zu werden, machte man uns gefügig. Meine Mutter kam auf einen größeren Hof nach Kokoszczyn ganz im Osten der Gemeinde Gojsk und durfte meine beiden kleineren Schwestern, dreieinhalb und siebeneinhalb Jahre alt, mitnehmen, wahrend meine größeren Schwestern und ich mit meinen 13 Jahren zu je einem anderen Bauern gebracht wurden. Es vergingen mehrere Wochen, bis wir uns besuchen durften. Teilweise wussten die Mütter nicht, wo ihre Kinder abgeblieben waren."
Erst nach Jahren führte das Schicksal die Familie Plitt wieder zusammen. Bis heute ist Arthur Plitt der seelische Schmerz präsent geblieben, den das Abschiednehmen der Familienmitglieder im Jahre 1945 verursacht hatte.
Siegfried Raffalski, der heute in Espelkamp lebt, befand sich mit seiner Mutter und drei Geschwistern Anfang Marz 1945 auf einem Flüchtlingszug, der jedoch von der Front "überholt" wurde. Bei Bromberg stoppte die polnische Miliz die Bahn und sperrte die Menschen fiir einige Tage in ein Sammellager. Nach der Überführung in ein weiteres Lager bei Potulice begann hier die "Verteilung" der Deutschen auf ihre "neuen" Familien. Während Siegfrieds Mutter in Potulice blieb und bald in einem polnischen Haushalt arbeitete, begann für die Kinder eine schlimme Zeit. Siegfried Raffalski erinnert sich:
"Am 27. April wurden allen Müttern die Kinder abgenommen. Es ging zurück nach Bromberg. Kinder unter zehn Jahren, zu denen meine drei Geschwister gestellt wurden, mit einem Pferdefuhrwerk, die größeren, zu denen ich gehörte, mussten laufen. Damit hatte ich auch den Kontakt zu den Geschwistern verloren. Die Mütter bekamen keine Informationen und wussten nicht, wo sich ihre Kinder befanden. Man hat diese offenbar zunächst in Heimen untergebracht und dann von Polen zu sehr unterschiedlichen Zwecken in Familien geholt. Auch ich kam in eine Familie und wusste nicht, wo meine Lieben abgeblieben waren. Heute bin ich mir sicher, dass viele deutsche Kinder in polnischen Familien blieben und heute Polen sind."
Ein purer Zufall wollte es, dass Siegfried Raffalski seine Schwester einige Zeit nach der Trennung in einem Bromberger Geschäft traf. Sie besaß die Anschrift der anderen Brüder. So konnte man wieder miteinander in Kontakt treten. Die Mutter sahen sie aber erst Jahre später in Westfalen wieder.
Am Samstag lesen Sie: "Die Ankunft im Westen war für viele Flüchtlinge und Vertriebene ein enttäuschendes Erlebnis."
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