Neue Westfälische ,
17.03.2005 :
60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / "Es war ein Leben in völliger Unsicherheit" / Zeitzeugen aus OWL: Vertreibung aus Pommern, Ostbrandenburg, Westpreußen, Schlesien und Ostpreußen
Vor 60 Jahren am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. Viele Menschen erinnern sich der schrecklichen Zeit. In einer Serie, die der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk zusammengestellt hat, berichten wir über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen. Unsere Zeitzeugen leben heute in Ostwestfalen-Lippe. In dieser Folge geht es um die Vertreibung: Teil 4.
Bielefeld. Viele Flüchtlinge kehrten nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands wieder in ihre Heimatorte östlich von Oder und Neiße zurück. Zusammen mit den dort noch lebenden etwa fünf Millionen Deutschen hofften sie, sich mit den neuen Machthabern arrangieren zu können. Das stellte sich jedoch als unmöglich heraus. Der damals 15 Jahre alte Walter Kurzawski, heute Bielefelder, schildert die Lebensumstände in seiner Heimatstadt:
"Vom Sommer 1945 bis zum Frühjahr 1946 lebten meine Mutter, mein zweijähriger Bruder und ich unter der russisch-polnischen Besatzungsmacht in unserer alten Heimatstadt Breslau, die jetzt Wroclaw hieß. Als Deutscher war man in dieser Zeit fast vogelfrei. Fast täglich kam es zu Gewalttätigkeiten gegen Deutsche. Es war ein Leben in völliger Unsicherheit. Auch musste man befürchten, dass man plötzlich in ein polnisches Lager abgeholt werden konnte."
Schon im Februar 1945 hatte Stalin eine polnische Marionettenregierung einsetzen lassen, die, ohne den "Segen" der Westalliierten zu haben, Pommern, Ostbrandenburg, Westpreußen, Schlesien und südliches Ostpreußen unter eigene Verwaltung nahm.
"Entweder für Polen optieren oder 'raus aus Ostpreußen."
Seit April 1945 fanden hier die so genannten "wilden" Vertreibungen statt. Der achtjährige Heinz Timmreck und seine Familie aus dem ostpreußischen Buchwalde, Kreis Osterode, waren Opfer dieser Übergriffe:
"Im Mai und Juni tauchten die ersten Polen auf. Zivilisten und Soldaten mit ihren vierspitzigen Mützen. ... Nun hieß es, entweder für Polen optieren oder 'raus aus Ostpreußen. Meine Mutter wollte auf keinen Fall fur Polen optieren ... Bevor wir in einen Zug steigen konnten, wurden wir auf Wertsachen, Schmuck, Geld usw. gründlich gefilzt. Es war ein überfüllter Güterzug, der uns nach Mecklenburg in die sowjetische Besatzungszone brachte, obwohl die Ausweisungsbescheinigung den Eintrag Westfalen trug. Der Zug wurde von Polen in Deutsch-Eylau geplündert. ... In Küstrin, dem neuen Grenzübergang, blieben wir mehrere Tage stehen, bis es weiter ging. Dort mussten die großen Jungen, wie mein Bruder und Walter Fröhlich, ein Massengrab schaufeln. Auch wurde in unserem Waggon ein Mädchen geboren, Folge einer Vergewaltigung."Timmreck wohnt heute in Bad Salzuflen.
Auf den Kriegskonferenzen in Teheran (1943) und Jalta (1940 erörtert und schließich in Potsdam von den Alliierten beschlossen, waren die Vertreibungen der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße schließlich rechtens. Der heute in Bielefeld lebende Eckehard Tschacher wurde 1934 in Eisenberg, Kreis Sprottau in Niederschlesien geboren. Er erlebte im Juni 1945 die Vertreibung aus seinem Heimatort:
"Jeder durfte so viel mitnehmen, wie ertragen konnte."
"Am 26. Juni 1945 kam polnisches Militär in unser Dorf und trieb alle Bewohner mit Waffengewalt auf die Straße. Jeder durfte soviel mitnehmen, wie er tragen konnte. Kleinkinder durften von den Müttern über Waldwege Richtung Lausitzer Neiße gefahren werden. Nach drei Tagesmärschen, auf denen es immer wieder zu Plünderungen und so genannten Kontrollen kam, wurden wir in Rothenburg über die Neiße getrieben. Viele starben an Hunger, Durst und Entkräftung am Straßenrand. Alte, Kranke und Kinder starben an Entbehrungen. Viele Familien, wie auch meine, waren zerissen." Fiir einige Deutsche hatte das Schicksal noch eine weitere Prüfung vorgesehen, bevor sie endgültig aus ihrer Heimat abgeschoben wurden.
Morgen lesen Sie: Zwangsarbeit für die neuen polnischen Machthaber.
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