Neue Westfälische ,
16.03.2005 :
60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / Die Gewalt war nicht mehr zu zügeln / Zeitzeugen aus OWL: "Es waren nur Schreie zu hören und überall lagen Tote!" / Junge Frauen wurden ausgesondert
Vor 60 Jahren am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. In einer Serie, die der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne mit dem Deutschlandfunk zusammengestellt hat, berichten wir über das Schicksal der Heimatvertriebenen. Unsere Zeitzeugen leben heute in Ostwestfalen-Lippe. Heute geht es um die Erlebnisse zu Hause: Teil 3.
"Der Gegner steht südwestlich Gotenhafen und dringt in das Weichbild von Danzig ein. Die Sehnenstellung der 4. Armee wird weiter verkürzt." So lapidar lautete der Wehrmachtsbericht vom 26. März 1945. Die Rote Armee hatte Danzig nach erbittertem Häuserkampf fast ganz eingenommen. Mehr als 80.000 der 400.000 Einwohner zählenden Stadt starben dabei.
Zu den Überlebenden zählte die damals zwölfjahrige Hildegard Müterties, ihr vier Jahre alter Bruder und die Mutter. Mit erhobenen Händen kamen sie aus ihrem Luftschutzkeller hervor und wurden von den russischen Soldaten angewiesen, sich sofort aus der Kampfzone zu begeben.
Die Gütersloherin Hildegard Müterties schreibt: "Hier waren schon hunderte von Menschen. Jeden Tag wurden die jungen Frauen geholt, viele kamen nicht mehr wieder. Dann der Hunger. Es war auch noch sehr kalt und die schreckliche Angst. Nach einer Woche wurden wir zusammengetrieben, und wir zogen zurück nach Hause, nach Danzig. Es wurde ein langer Weg. Wir mussten oft Rast machen. Die Russen fuhren an uns vorbei and warfen Handgranaten in die Menge. Es waren nur Schreie zu hören and überall lagen Tote. Jeder hatte Angst. Die Nächte waren am schlimmsten. Dann kamen die Russen and holten die Frauen. Es war nur ein Weinen and Jammern!"
Karin von Wallenberg aus Bielefeld wurde 1938 in Danzig geboren. Die ständigen Bombenangriffe auf die Stadt verlangten besseren Schutz als der, den Bunker und Luftschutzkeller gewähren konnten. Man entschied sich zur Flucht. Per Bahn gelangte die Familie bis nach Mecklenburg, zu einer Verwandten. Hier gebar die Mutter den kleinen Bruder von Karin. An Ausruhen war aber kaum zu denken. Bald mussten alle vor der Roten Armee flüchten. Doch rasch wurden die Flüchtenden von den sowjetischen Soldaten eingeholt: "Meine Mutter versteckte sich mit uns Kindern, sobald Russen durch das Dorf zogen - denn wo sie kleine Kinder antrafen, vermuteten sie auch junge Frauen und fanden sie dann auch - trennten sie vorübergehend von ihren Kindern und trieben sie in einen anderen Raum. Wir waren froh, als die Mütter wiederkamen - wussten nicht, was geschehen war, aber es konnte nichts Gutes sein, viele von ihnen weinten. Immer wieder sah man Menschen, die, weil sie keinen Ausweg wussten, sich an Gartenzäunen und Bäumen erhängt hatten."
Den Deutschen im damaligen Sudetenland erging es nicht viel besser. Nachdem die Sowjet-Armee die Wehrmacht zum Rückzug gezwungen hatte, kam es zu gewalttätigen Übergriffen seitens der tschechischen Bevölkerung. Die Familie Jauker aus Brod, dem heutigen Stare Vrato bei Budweis, Pfarre Rudolfstadt, traf es besonders hart. Ein Familienmitglied berichtete:
"Ich wurde einem Kommunisten vorgeführt, der mir sofort einen Schlag ins Gesicht versetzte. Es kamen noch andere Tschechen dazu, die mich mit den Füßen traten und schlugen. Zu meinem Schrecken lag vor meinen Füßen ein Haufen verstümmelter Leichen, insgesamt 23 tote Deutsche, ermordet. Vor dem Tor standen zwei Lastautos bereit, wir mussten die Ermordeten aufladen. Von meinem Rockärmel tropfte das Blut meiner Kameraden." Der Bericht aus Budweis wurde von Frau Maria Edler zur Verfügung gestellt, die in Bad Salzuflen lebt.
Morgen lesen Sie von den Erlebnissen auf der Flucht.
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