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Neue Westfälische , 15.03.2005 :

60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / Flucht der Deutschen: "Rette sich, wer kann!" / Für viele kam die Aufforderung, Haus und Hof zu verlassen, viel zu spät

Vor 60 Jahren am 8. Mai endete der Zweite Weltkrieg. Viele Menschen erinnern sich der schrecklichen Zeit. In einer Serie, die der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk zusammengestellt hat, berichten wir über das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen. Unsere Zeitzeugen leben heute in Ostwestfalen-Lippe. Zunächst geht es um den Beginn der Flucht: Teil 2.

Bielefeld. Am 22. Juni 1944 setzte die Sowjet-Armee zur Operation "Bagration" an. 185 Divisionen mit insgesamt zweieinhalb Millionen Mann vernichteten binnen weniger Wochen in einem bis dahin beispiellosen Furor die Heeeresgruppe Mitte und Südukraine. 400.000 deutsche Soldaten kamen ums Leben. Der rasche Zusammenbruch der Front hatte zur Folge, dass die Rote Armee schon im Herbst des Jahres in Ostpreußen stand.

Voller Entsetzen warteten die meisten deutschen Einwohner auf die Erlaubnis der NSDAP-Dienststellen zur Flucht.

Zu ihnen gehörte auch der 1931 in Weszeningken, Kreis Tilsit-Ragnit geborene Heinz Stepputtis, der heute in Bielefeld lebt. Er berichtet, dass man am 7. Oktober 1944 in seinem Ort den Befehl zur Evakuierung gab. In vier Stunden mussten alle Bewohner mit Pferd und Wagen auf der Dorfstraße bereit stehen. Um 12 Uhr mittags ging es los. Die Maßnahme verlief zunächst planmäßig und einigermaßen geordnet. Alles schien von den Behörden vorbereitet, auch die Unterkunft der Flüchtenden im etwa 180 Kilometer entfernten Falkenau.

Man hoffte, dass es bald wieder nach Hause gehen würde, sobald die Russen zurückgeworfen seien. Doch Ende Januar 1945 hieß es plötzlich: "Rette sich, wer kann! ... Die Russen sind da! ... Es ging durch Wälder, um die Straßen zu meiden, in denen wir nachts zusammengekauert mit vielen Fremden saßen. Hier fanden uns die Russen. Mutter mit den beiden ältesten Geschwistern musste mit, zum Wäschewaschen, hieß es. Vater, mein Bruder und ich mussten uns in eine Gruppe von Männern einreihen. Nun war die Familie getrennt."

Der zwölf Jahre alte Heinz Heisig (heute Bielefeld) verließ im Januar 1945 mit seiner Familie das schlesische Wiesegräflich. Viel zu spät waren die Einwohner von der Wehrmacht dazu aufgefordert worden, den Ort so schnell wie möglich zu räumen. Die Front war nur noch drei Kilometer entfernt. Heinz Heisig erinnert sich:

"Nun versuchen wir, der nahenden Kriegswalze zu entrinnen, ... Meine Mutter und ich ziehen mit einer Hand den Wagen, mit der anderen schieben wir das bepackte Fahrrad. Meine Großmutter schiebt den Wagen und achtet darauf, dass nichts herunterfällt. Wir sind nicht allein, denn aus so mancher Hofeinfahrt kommen Pferdewagen, beladen mit Menschen und notwendigen Dingen für die nun beginnende Flucht in die Nacht, ins Ungewisse."

Auch für die Familie des 1930 geborenen Erich Woitelle aus Frauenhain, Kreis Ohlau in Schlesien kam der Befehl zur sofortigen Flucht nicht mehr rechtzeitig. Schon am Vormittag des 23. Januars 1945 heulten Granaten, von sowjetischen Geschützen abgefeuert, über den Ort hinweg. Erst um 15 Uhr hieß es plötzlich, dass das Dorf noch vor Einbruch der Dunkelheit zu evakuieren sei: "Gegen 17.30 Uhr setzte sich der Treck des Dorfes bei hellem Mondschein, hohem Schnee und 22 Grad Kälte unter Zurücklassen des gesamten Hab und Guts sowie allem Vieh, in ein Ungewisses in Bewegung. An diesem Abend fuhren wir ca. zwölf Kilometer in das schon mit Flüchtlingen überfüllte Günthersdorf, in der Hoffnung, bald wieder nach Hause fahren zu können."

Erich Woitelle, der heute in Lage wohnt, berichtet, dass nicht alle Bewohner seines Heimatdorfes flüchteten. Sie verkündeten, dass die Russen ihnen "schon nichts tun" würden. Eine fatale Fehlannahme, wie sich bald herausstellen sollte ...

Die nächste Folge lesen Sie am Mittwoch, 16.03.


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