Neue Westfälische ,
14.03.2005 :
60 Jahre Kriegsende / 8. Mai 1945 / "Viele haben noch immer keinen Frieden gefunden" / Interview: Der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne zum 60. Jahrestag des Kriegsende in Europa
Bielefeld. Das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa jährt sich am 8. Mai zum 60. Mal. Diese Zeitung hat vor einigen Wochen Heimatvertriebene, die heute in Ostwestfalen-Lippe lesen, aufgerufen, sich zu melden und sich als Zeitzeugen zur Verfügung zu stellen. Der Bielefelder Historiker Hans-Jörg Kühne hat mit ihnen gesprochen und stellt ihre ganz privaten Schilderungen in den größeren historischen Zusammenhang. In den kommenden Wochen veröffentlichen wir wir die Dokumente der Zeitgeschichte, die später auch in ein Buch einfließen werden. Wir berichten darüber, wie schwer den Menschen die Entscheidung zur Flucht gefallen ist, die Erlebnisse auf dem langen Treck gen Westen und wie sie später in Ostwestfalen-Lippe aufgenommen wurden. Bernhard Hänel sprach zum Auftakt der Serie mit Hans-Jörg Kühne.
Herr Kühne, Sie haben von erschütternden Erlebnissen und Schicksalen gehört. Was hat Sie dabei am tiefsten beeindruckt?
Hans-Jörg Kühne: Das die Menschen noch immer keine innere Ruhe gefunden haben. Sie sind alt inzwischen, teilweise sehr alt. Dennoch haben sie fast 60 Jahre nach Kriegsende noch immer nicht ihren Frieden mit dem Erlebten gemacht. Viele wirken auf mich depressiv. Andere beschwerten sich darüber, dass ihre Kinder und Enkel von ihren Erlebnissen kaum etwas wissen wollen. Um so glücklicher waren sie, dass Ihre Zeitung sich jetzt für ihr Schicksal interessiert.
Wovon berichteten Ihnen die Zeitzeugen?
Kühne: Das waren sehr erschütternde Berichte, die ans Herz gingen. Sie erzählen vom "Einfall der Russen", die mit einem gewaltigen Furor Rache nahmen an der ostdeutschen Bevölkerung. Die Leute auf dem Land fühlten sich überfallen und waren sich keiner Schuld bewusst. Bis dahin war dort ja alles mehr oder weniger friedlich - Bombenangriffe gab es ja auch kaum in diesen Gebieten. Und plötzlich "stehen die Russen vor der Tür", werden Menschen erschlagen, gibt es Massenvergewaltigungen. Wer kann, flieht in Panik und lässt alles zurück.
Aber die örtlichen Nazi-Größen hinderten sie doch häufig an der Flucht.
Kühne: Erstaunlicherweise thematisieren die Menschen das kaum. Der örtlichen NSDAP-Führung gibt eigentlich keiner Schuld daran, wenn man nicht rechtzeitig fliehen konnte. Im Zentrum des Hasses stehen allein die Soldaten der Roten Armee. Sie werden als Universalschuldige benannt; egal, was sonst passiert ist.
Sind nicht viele Flüchtlinge nach Ende der Kampfhandlungen wieder zurückgekehrt in ihre Häuser und Dörfer?
Kühne: Das ist richtig. Viele wurden einfach zurück geschickt. Andere dachten wohl, jetzt ist der Krieg vorbei und es wird doch nicht so schlimm werden. Sie konnten dann tatsächlich noch kurze Zeit unter halbwegs normalen Bedingungen in ihrer Heimat leben. Dann mussten die Polen ihre Heimat im Osten an die Sowjetunion abtreten und wurden in Ostdeutschland angesiedelt. Das löste die Veretreibung der Deutschen aus.
Gibt es Menschen, die sagten: Der Schrecken, den Deutschland über Europa gebracht hatte, schlug nun auf sie zurück?
Kühne: Ja, vielleicht bei einem Drittel der Heimatvertriebenen. Viele erzählen auch von Besuchen in ihrer alten Heimat, die heute polnisch ist. Mit den einzelnen Menschen kamen sie offenbar gut aus. Sogar einige Freundschaften sind dabei entstanden.
Und der große Rest?
Kühne: Die haben mit Nichts und Niemand Frieden gemacht. Das ist blanker, nicht verzeihen könnender Hass. Diese Menschen betrachten die Aussöhnungspolitik von Willy Brandt als den Sündenfall der Nachkriegsgeschichte. Manche Vertriebene sind schlicht äußerst rechts im politischen Spektrum angesiedelt. Die werden mit Hass ins Grab gehen.
Und wie erlebten die Menschen ihre neue Heimat Ostwestfalen und Lippe?
Kühne: Auch da gibt es häufig keine guten Erinnerungen. Viele fühlten sich unter Generalverdacht gestellt: man wurde als Nazi-Aktivist verdächtigt. Warum denn sonst hätten die Russen sie vertrieben? Und wenn irgendwo etwas abhanden gekommen war, seien zuerst immer die Heimatvertriebenen als Täter verdächtigt worden.
Es hieß ja auch enger zusammenzurücken für die Alteingesessenen. Fühlte man Solidarität?
Kühne: Willkommen geheißen fühlte sich eigentlich keiner meiner Gesprächspartner. Eher verleumdet. Jeder kennt die Geschichten über Vertriebene. Zuhause hatten sie nur einen kleinen Hof und hier hätten sie Lastenausgleich für ein Rittergut bekommen. Das alles sitzt tief in diesen Menschen. Und es schmerzt sie.
Ist also alles nur bitter in der Erinnerung?
Es gibt viel Selbstmitleid. Vielleicht ist es zu viel verlangt, die Dinge neutraler zu betrachten. Schließlich gab es ja auch den Wiederaufbau und anschließend sogar das deutsche Wirtschaftswunder.
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