Internationales Beratungszentrum ,
11.12.2003 :
Oberverwaltungsgericht Münster erkennt Muhsin Sit als politisch Verfolgten an / Stadt Detmold wollte die 12-köpfige Familie in die Türkei abschieben / Internationales Beratungszentrum: "Ein Suizidversuch muss für alle Zeiten reichen"
Detmold/Münster. Am 9. Dezember hat der 8. Senat des Oberverwaltungsgerichts Münster die Bundesrepublik Deutschland dazu verurteilt, Muhsin Sit die Stellung eines Flüchtlings gemäß § 51 Ausländergesetz ("Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter") zu gewähren. Dabei ist eine Revision nicht zugelassen worden. Da keiner der übrigen Verfahrensbeteiligten beabsichtigt, einen Antrag auf Zulassung der Revision zu stellen, ist davon auszugehen, dass das Urteil rechtskräftig werden wird. Das OVG sah es in der mündlichen Verhandlung als erwiesen an, dass Herr Sit in der Türkei politisch verfolgt und mehrfach schwer gefoltert wurde. Weil aus Sicht des Senats bei einer Rückkehr in die Heimat eine erneute politische Verfolgung wahrscheinlich ist, bejahte das OVG ein uneingeschränktes Bleiberecht für den zehnfachen Familienvater – und damit auch für seine Angehörigen.
Die im Heimatland erlittenen Verhaftungen und die Gewalt- und Foltererfahrungen verursachten bei Herrn Sit eine "Posttraumatische Belastungsstörung" mit begleitender Suizidgefährdung. Das ist das Ergebnis eines Psychologischen Gutachtens, welches das Gericht in Auftrag gegeben hatte. Es bestätigte abschließend alle vorhergehenden ärztlichen Bescheinigungen, die der Stadt Detmold zuvor vorgelegt worden waren.
Aus Sicht des Internationalen Beratungszentrums hatte diese sich bei der Behandlung der Familie Sit im vergangenen Jahr ein moralisches Armutszeugnis ausgestellt. Der behördliche Umgang mit der Familie stieß weit über Lippe hinaus auf Unverständnis und große Empörung. Das ibz erinnert an die Vorführung des Ehepaares beim Türkischen Konsulat in Münster im Mai letzten Jahres. Mitarbeiter Diether Kuhlmann: "Trotz fachärztlicher Bescheinigung einer konkreten Suizidgefährdung hielt die Ausländerbehörde an der Vorführung fest, in deren Folge Herr Sit einen Selbstmordversuch unternahm. Diesen überlebte er nur dank einer rechtzeitigen Einlieferung in eine Klinik. Die Stadt Detmold ignorierte hier einen ärztlichen Befund. Das war ein grober Schnitzer, der an Körperverletzung grenzte." Kuhlmann weiter: "Hiervon unberührt betrieb die Ausländerbehörde daraufhin die Abschiebung der übrigen Familienmitglieder. Diese wurde erst im letzten Moment ausgesetzt, als das OVG den Antrag auf Berufung gegen ein Negativurteil im Asylverfahren entsprach. Genau dieser Berufung hat das Gericht nun stattgegeben."
Sein Kollege Ferhat Akman ergänzt: "Die Behandlungsbedürftigkeit von Herrn Sit war im Mai 2002 gegenüber dem Ausländeramt lückenlos dokumentiert. Die bescheinigte Erkrankung hätte die Stadt Detmold zum Anlass nehmen sollen, den Ausgang der Klage beim OVG abzuwarten. Dazu war sie nicht bereit. Ohne Not und sehenden Auges wurde so eine menschliche Tragödie verursacht und der Familie Sit weiteres unendliches Leid zugefügt."
Das ibz fordert als "Mindestkonsequenz aus dem OVG-Urteil" die Stadt Detmold erneut auf, sicherzustellen, "dass in Detmold nie wieder ein Asylsuchender gegen eindeutigen fachärztlichen Befund zu einer Botschaftsvorführung gezwungen wird". Flüchtlingsberaterin Gudrun Lagemann abschließend: "Auch für die Ausländerbehörde der Stadt Detmold, die nicht nur bei der Familie Sit ihre Ermessensspielräume nahezu fahrlässig ignorierte, muss ein Suizidversuch für alle Zeiten reichen!"
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