Lippische Landes-Zeitung ,
16.01.1993 :
Landtagswahl in Lippe gestern vor 60 Jahren / Als Hitler auf die Dörfer ging
Von Burkhard Meier
Kreis Lippe. Wenn sich am 30. Januar die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler zum 60. Male jährt, wird unter Umständen auch vom "Signal Lippe" die Rede sein: Am 15. Januar 1933, gestern vor sechs Jahrzehnten, fanden hier die letzten demokratischen Landtagswahlen statt. Nach einem Wahlkampf, der für hiesige Verhältnisse an Aufwand und Aggressivität beispiellos war, stellte die NSDAP die größte Fraktion im Parlament und verstand es darüber hinaus, die Abstimmung als "Durchbruchsschlacht zur nationalen Revolution" darzustellen.
Nachdem die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen vom 6. November 1932 von 37,3 auf 33,1 Prozent zurückgefallen waren und sich der negative Trend auch bei den folgenden Landtags- und Kommunalwahlen fortsetzte, stand die Bewegung bei der anstehenden Wahl im Land Lippe unter Erfolgszwang. Denn die Stimmung im Parteilager war von Enttäuschung gekennzeichnet, die finanzielle Situation ausgesprochen desolat und der Führer von der seit einiger Zeit angestrebten Teilnahme an der Regierungsverantwortung im Reich nach allgemeiner Einschätzung noch weit entfernt.
Daher beschloss die Parteispitze, die Wahl in Lippe zum alles entscheidenden "Fanal" zu stilisieren. "Wir wollten", schrieb Reichspressechef Dietrich rückblickend, "an diesem kleinen Beispiel, da sich im Augenblick kein größeres bot, die seit dem, 6. November fleißig erörterte Theorie von der 'abebbenden nationalsozialistischen Welle' schlagend widerlegen."
Lippe gehörte zu den "Zwergstaaten" in Deutschland. An wahlberechtigten Einwohnern zählte es noch nicht einmal 120.000. Die 13.500 Lipper, welche infolge der weltweiten wirtschaftlichen Depression ihren Arbeitsplatz verloren hatten, waren für die simplen Parolen der Nationalsozialisten naturgemäß besonders empfänglich. Der Einsatz im Land zwischen Teutoburger Wald und Weser war erfolgversprechend, weil der Stimmenanteil der NSDAP bei den zurückliegenden Wahlen über dem auf Reichsebene erzielten Ergebnis gelegen hatte. Außerdem konnte der Wahlkampf in einem Kleinstaat besonders intensiv geführt werden.
Auf einer Sitzung des Organisationskomitees in Münster ließ Gauleiter Alfred Meyer am 17. Dezember 1932 verlauten, "daß alle namhaften Redner der Partei im lippischen Wahlkampf zur Verfügung stehen. Der Führer selbst wird, allen ein Vorbild, an zehn Abenden in 16 Massenversammlungen zu den lippischen Volksgenossen sprechen ( ... ). Der gesamte Propagandaapparat der Partei soll in Lippe eingesetzt werden, kein Dorf, kein Haus, kein Kotten von der Aufklärungswelle ( ... ) verschont bleiben."
Plakate mit markigen Sprüchen
Diesem Vorsatz, protokolliert vom Gaupresseamtsleiter Arno Schröder, sind die Nationalsozialisten gerecht geworden. Tatsächlich stand ein Wahlkampf bevor, in dem kein Lipper der geschickten NS-Propaganda ganz entgehen konnte. Das Sprachrohr der NSDAP, der "Lippische Kurier", erschien zweimal täglich in einer sensationell hohen Auflage von jeweils 20.000 Exemplaren. Eine wahre Flut von Broschüren, Flugblättern und Postwurfsendungen ergoss sich über das Land. Großlautsprecher- und Radioübertragungswagen sowie eine große Zahl von Hauswerbern kamen zum Einsatz. Plakate mit markigen Sprüchen wie "Macht frei das Hermannsland" verfehlten ebenfalls nicht ihre Wirkung.
Neben SA- und SS-Verbänden aus Lippe und den umliegenden Bezirken radelte eine etwa 600 Mann starke Einheit aus dem Ruhrgebiet hierher (das Geld für Bahnfahrkarten fehlte der Partei). Zwar beschloss die Landesregierung eine Reihe von Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit - darunter ein Versammlungs- und Umzugsverbot unter freiem Himmel -, aber vielerorts gab es Schlägereien und Schusswechsel, an denen die NS-Trupps beteiligt - und in den allermeisten Fällen wohl auch schuldig - waren.
Zweifellos am wirkungsvollsten waren die 16 Auftritte des Parteiführers in Sälen und Großzelten. Noch zu Jahresbeginn hatte die Landes-Zeitung ironisiert: "Hitler geht durch die Dörfer"; die Resonanz auf die phrasenhaften und gleichermaßen mitreißenden Reden war jedoch erschreckend. Am 14. Januar soll es bei der Abschlusskundgebung in Bad Salzuflen 15.000 Zuhörer gegeben haben. Die anderen Parteien mit ihren eher herkömmlichen Wahlkampfmethoden gerieten geradezu zwangsläufig ins Hintertreffen.
Hinter den Erwartungen
Wenn die NSDAP mit 39,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auch stärkste politische Kraft, im Landtag wurde, blieb sie dennoch weit hinter ihren Erwartungen zurück. Trotzdem gelang es Reichspropagandaleiter Goebbels, den Teilerfolg in einen angeblich absoluten Sieg umzumünzen. Im "Völkischen Beobachter" hieß es am 19. Januar: "Es ist eingetroffen, was der Führer in allen Versammlungen voraussagte: Die nationalsozialistische Welle ist nicht gebrochen ( ... ), flutet nun von Lippe aus in das weite deutsche Land."
Die lippische Wahl - ein unverzichtbarer Schritt auf dem Weg zur Machtübertragung? Davon kann bei nüchterner Betrachtung der Ereignisse keine Rede sein. Vielmehr war es zuallererst ein Zufall, dass gerade in diesem Gliedstaat des Deutschen Reiches reguläre Wahlen anstanden. Ferner: Die NSDAP hätte bei vergleichbarem propagandistischen und materiellen Aufwand höchstwahrscheinlich auch in anderen Ländern ähnlich abgeschnitten.
Und schließlich: Nicht die Lipper haben Hitler zum Reichskanzler gemacht. Berufen wurde er von einem arglosen und vergreisten Reichspräsidenten, nachdem führende Konservative und wichtige Männer aus der Wirtschaft sich ihm zur Seite gestellt hatten.
Literatur:
H.-P. Adler/Th. Helmert-Corvey, "Hakenkreuz über Lippe", Detmold 1983.
H. Hüls, "Wähler und Wahlverhalten im Land Lippe während der Weimarer Republik", Detmold 1974.
A. Schröder, "Hitler geht auf die Dörfer", Detmold 1938.
V. Wehrmann, "Lippe im Dritten Reich", Detmold 1984.
R. Wulfmeyer, "Lippe 1933", Bielefeld 1987.
16./17.01.1993
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