WebWecker Bielefeld ,
10.12.2003 :
Erste Begegnung
Von Manfred Horn
"Wir arbeiteten zwölf Stunden am Tag, von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends. Ich war zu der Zeit 16 Jahre und 5 Monate alt." Anna Bondartschuk erinnert sich an ihre Zeit als Zwangsarbeiterin in Bielefeld bei den Miele-Werken. "Es war sehr schwer, an der Maschine auszuhalten, besonders nachts. Man hat uns dünne Brühe mit Spinat und Steckrüben zum Essen gegeben. Ein ziegelförmiger Laib Brot wurde unter sieben Leute für einen Tag aufgeteilt."
Heute ist Anna Bondartschuk knapp 80 Jahre alt. Sie lebt in der Stadt Schitomir in der Ukraine. Alleine ist sie inzwischen, im September ist ihr Mann gestorben. Ihre Zwei-Zimmer-Wohnung ist karg eingerichtet, sie muss mit einer kleinen Rente auskommen. 25 Euro sollen für einen ganzen Monat reichen, was ist aber nicht tun. Als Anna Bondartschuk erfuhr, Besuch aus Bielefeld würde kommen, war sie sehr aufgeregt.
Die kleine Delegation bestand aus einem dreiköpfigen Team: Michael Thamm, Studioleiter des WDR, Kameramann Hennig Poltrock und Tanja Schuh vom Bielefelder Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie". Als der Verein vor zwei Jahren Kontakt mit der Moskauer "Memorial-Stiftung" aufnahm, um die Adressen von ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, die während des 2. Weltkrieges in Bielefeld arbeiten mussten, zu erfahren, war sie darunter. Sie schrieb, wie etwa 50 der daraufhin vom Bielefelder Verein angeschriebenen, einen Brief nach Bielefeld. Dies war der erste Kontakt für Anna Bondartschuk, seit sie 1945 aus Bielefeld befreit wurde.
Die Erinnerung. Sie quoll heraus. Bondartschuk setzte sich mit den Besuchern aus dem fernen Bielefeld zusammen und erzählte stundenlang, zeigte Fotos von damals. Wie sie zusammen mit elf anderen jungen Frauen aus dem Dorf Iwankow 1942 unter Androhung von Gewalt ins Deutsche Reich verschleppt wurde. Wie sie dann für Miele an der Schildescher-Straße arbeitete, an der Fräsmaschine. 12 Stunden täglich. Sie berichtet vom großen Hunger, der sie fast bewusstlos machte. Diese Tage vor zwei Wochen, die erste ganz persönliche Begegnung mit Menschen, die heute in Bielefeld leben.
Die kleine, weißhaarige Frau erinnert aber nicht nur Schlimmes: In dem Morast aus Gängelung und Hunger hat sie Menschen kennengelernt, die sie als gutmütig und verantwortungsvoll beschreibt. Wie ihren Meister bei Miele, wie die Menschen, die ihnen Essen gaben, wenn sie sonntags in die Stadt durften. Es scheint sogar so, dass das positive die schrecklichen Erlebnisse überdeckt. "Die Stadt Bielefeld ist für mich immer im Gedächtnis geblieben, ich erzähle meinen Kindern, Enkeln und Urenkeln, wie ordentlich es dort war."
Das Team aus Bielefeld war Ende November eine Woche im Gebiet Schitomir. Ingesamt neun Menschen besuchte es dort. Sieben kannte sie bereits aus Briefen, denen überbrachte Tanja Schuh in Bielefeld gesammelte Spenden. Wobei die 200 Euro pro Person ungefähr den Umfang einer Jahresrente darstellen. Aus dem Entschädigungsfond der Bundesrepublik haben die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen bereits circa 1.000 Euro erhalten, im nächsten Jahr kommt noch die kleinere zweite Rate dazu. Ein relativer Betrag: Zu wenig, um die Jahre der Fronarbeit zu bezahlen, wenn sich die Qual denn überhaupt in Geld übersetzen lässt. Gleichzeitig viel für Menschen, die mit unvorstellbar wenig Geld auskommen müssen. So viel Geld, dass es in der Ukraine bereits zu Morden an ehemaligen ZwangsarbeiterInnen kam. Einziges Motiv: Das Geld.
Als Tanja Schuh im Oktober erfuhr, dass wieder eine der ehemaligen Bielefelder ZwangsarbeiterInnen, insgesamt waren es über 16.000, gestorben war, wurde ihr klar: jetzt muss sie fahren. Da kannte sie bereits den Vorschlag von Michael Thamm. Der hatte im Juli eine Veranstaltung im Theater am alten Markt moderiert, bei der aus Briefen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen gelesen wurde. Thamm war sehr beeindruckt und schlug vor, doch in die Ukraine zu reisen.
Für ihn bei allem Stress auch ein Vergnügen, sich einem Thema und Menschen zu nähern, über das er bis zur Veranstaltung im Sommer nicht viel wusste. "Die konnten sich sehr präzise erinnern", stellt er anerkennend fest. Eingegrabenes Wissen, erst 50 Jahre später wieder an die Oberfläche gekommen. In der Zeit der Sowjetunion war Zwangsarbeit in Deutschland kein Thema. Schlimmer: Wer sich zu laut und zu positiv erinnerte, wurde vom Staat misstrauisch beäugt, bekam schlechte Jobs oder landete sogar im Arbeitslager. Den Mächtigen waren die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen suspekt. Keine Rede davon, dass sie mit Gewalt zur Arbeit nach Deutschland geführt wurden. Stattdessen wurden sie als Kollaborateure beschimpft.
"Um so älter, desto mehr erzählt man", fasst Tanja Schuh zusammen. "Die Menschen bemühten sich sehr, nichts bei ihren Erzählungen auszulassen." Die Bielefelder Studentin spricht ukrainisch und sorgte während der Reise für direkte Kommunikation mit den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen. Sie hat unheimlich viel mitgenommen von den Kontakten. Es freut sie, Menschen das Gefühl geben zu können: da gibt es noch wenn, der sich für Dich interessiert. Dabei kam sie desöfteren an ihre Grenzen: "Für mich war es manchmal schwierig. Da äußerten sich so viele Gefühle. Manchmal konnte ich auch meine Tränen nicht mehr zurückhalten."
"Nahezu alle ehemaligen Zwangsarbeiter haben den Wunsch, Bielefeld noch einmal zu besuchen", schildert Schuh ihren Eindruck. "Sie können sich noch so gut an viele Orte in der Stadt erinnern, sie möchten sie gerne wiedersehen." Thamm bestätigt: "Meine persönliche Meinung ist, dass in Bielefeld mehr passieren könnte, mehr als nur ein Gedenkstein auf dem Johannesberg." Die Idee, ehemalige Zwangsarbeiterinnen nach Bielefeld einzuladen, ist vor allem eine Kostenfrage. Und noch hat sich die Stadt, im Gegensatz zu umliegenden Städten wie Paderborn, noch nicht dazu durchringen können, diese Menschen einzuladen.
Durch die Briefe und die Reise bekommen diejenigen, die in Bielefeld unter Zwang einen Teil ihrer Jugend verbrachen, aber ein immer deutlicheres Gesicht. Die Kamera war mit in der Ukraine. Mit dreien der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen führte das Team intensive Gespräche und filmte. Material, dass geschnitten auf eine halbe Stunde wohl im Februar im WDR-Fernsehen zu sehen sein wird. Ein wichtiges Dokument, das zukünftig auch in Bielefelder Schulen zum Einsatz kommen könnte, wie Michael Thamm vorschlägt. Denn das Filmmaterial wird Eigentum der Bielefelder Sektion "Gegen Vergessen - Für Demokratie" und steht damit für einen lebendigen Geschichtsunterricht zur Verfügung.
Der voraussichtliche Sendeplatz der Dokumentation ist Samstag, 8. Februar, im Fernsehprogramm des WDR. Der Verein plant darüber hinaus eine öffentliche Aufführung in Bielefeld. Nähere Informationen gibt der WebWecker noch bekannt. Mehr Informationen zum Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie" finden Sie im WebWecker in der Rubrik "Gruppen vor Ort". Kontakt zum Verein: Meret Wohlrab, Telefon: 0521-5212709.
webwecker@aulbi.de
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