Lippische Landes-Zeitung ,
09.02.2005 :
Nicht das ganze Volk / Kommentar zum Genozid der Juden, 29./30. Januar
Wenn Uwe Zimmer meint, dass die Mehrheit der Deutschen Hitler gewählt hat, so hat er Recht, doch ich bestreite energisch, dass der größte Teil unseres Volkes, ja ein ganzes Volk, für den Genozid der Juden verantwortlich ist. An befohlenen Kriegsverbrechen waren beide Kriegsgegner in reichem Maß beteiligt, für die Verbrechen war nur einer verantwortlich: Adolf Hitler, ein Psychopath, ein Massenmörder, der zahllose harmlose Menschen "zu keinem politischen oder militärischen Zweck, sondern zu seiner persönlichen Befriedigung hat umbringen lassen" (Sebastian Haffner - "Anmerkungen zu Hitler").
Es ist eine Schande, dass Deutsche sich an seinen Verbrechen beteiligt haben. Wenn ich an die Reichskristallnacht zurückdenke, wird mir heute noch übel. Viele Menschen waren entsetzt, doch bald kam der Krieg und jeder dachte nur an sein eigenes Schicksal. Als ich Ende Mai 1945, gerade dem Tod von der Schippe gesprungen, in einer sowjetischen Kriegsgefangenenzeitung von Auschwitz und Maidanek las, wollten ich und mit mir alle Kameraden dies nicht glauben. Wir hielten es für Schwindel. Hatte Stalin die Ermordung polnischer Offiziere bei Katyn nicht uns Deutschen angelastet? Der weitaus größte Teil unseres Volkes hat von den Verbrechen Hitlers nichts gewusst, auch nicht von der Wannsee-Konferenz im Januar 1942, auf der die Vernichtung aller europäischen Juden durch Gaskammern beschlossen wurde. Ich schäme mich als Deutscher, dass Hitler damit uns alle zu Verbrechern abgestempelt hat und bedaure, dass Uwe Zimmer dem beipflichtet. Mit seiner Behauptung, "am Genozid der Juden sei ein ganzes Volk schuld" gießt er Wasser auf die Mühle derjenigen, die eine Aussöhnung zwischen Juden und Deutschen verhindern wollen: die deutschen Rechtsradikalen.
Gebhard Redlin
Schuhmannstraße 30
Bad Salzuflen
Neue Westfälische, 29./30.01.2005
Kommentar / Auschwitz und die Feinde der Demokratie / Zu kurz gedacht
Uwe Zimmer
Haben wir jetzt genug gedacht?
Die Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz haben schlimmste Erinnerungen wachgerufen. Opfer, Überlebende, Politiker mahnen, den millionenfachen Mord nicht zu vergessen und ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu bekämpfen.
Auschwitz ist das Symbol für deutsche Schuld. Noch nie hat sich ein Volk so tödlich über ein anderes erhoben. Nicht ihr Besitz, nicht ihr Lebensraum wurde den Juden streitig gemacht. Wer Jude war, konnte sich nicht unterwerfen, nicht konvertieren, nicht retten. Weil er Jude war, musste er sterben. Aus der Verantwortung für dieses Verbrechen wird kein Deutscher je entlassen.
Aber es gibt noch andere Gedenktage, an denen wir in Trauer und Schmerz verharren sollten: die Vertreibung der Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten im Osten, die Flächenbombardements deutscher Städte wie Dresden, organisierte Massenvernichtung durch Angriffe auf Flüchtlingsschiffe. Selbst wer die Begründungskette von Täter, Opfer, Rache anerkennt, sollte sich nicht scheuen, die Untaten beim Namen ihrer Verursacher zu nennen. Mit einem Unterschied: Für diese Kriegsgräuel sind Regierungen, Militärs, Fanatiker in Haftung zu nehmen; für den Genozid an den Juden ein ganzes Volk.
Aber im kollektiven Bewusstsein der Deutschen hat auch Stolz seinen gedachten Platz. Beispielsweise Stolz auf die Integrationsleistung nach Kriegsende. Zusammen mit den Vertriebenen und der Hilfe ehemaliger Kriegsgegner gelang der Aufbau und die Verankerung demokratischer Strukturen. Und auch wenn es im Osten noch keine blühenden Landschaften gibt, gehört die erreichte und gelebte Wiedervereinigung zu den Glanzpunkten deutscher Geschichte.
Dass auf diese durch die Erstarkung rechtsradikaler Parteien gerade im deutschen Osten ein Schatten fällt, ist bedauerlich, sollte aber keinesfalls zu hysterischen Gegenreaktionen führen. Wer zu Gewalt aufruft, Fremdenhass predigt, gegen den bietet die jetzige Rechtsordnung genügend Sanktionsmöglichkeiten. Weder die Verschärfung des Versammlungsrechts noch die Einschränkung der Meinungsfreiheit entbindet von der politischen Auseinandersetzung.
Und die ist nicht leicht. Wer es auf provokative Regelverletzung anlegt, dem ist mit strengeren Gesetzen nicht beizukommen. Die NPD-Provokateure im sächsischen Landtag sind dabei nur die sichtbare Spitze der antidemokratischen Szene. Die wird begleitet und unterstützt von einer neuen Intelligenz, die tiefe Wurzeln in der deutschen Geistesgeschichte hat. Ihr Kennzeichen: abgrundtiefe Verachtung für die demokratischen Werte.
Wie wir damit umgehen, darauf antworten, daran haben wir bislang viel zu wenig gedacht.
Anmerkung von www.hiergeblieben.de:
Gebhard Redlin ist Autor des Buches "Betrogene Jugend" (ISBN: 3000133607): "Der Zeitzeuge beschreibt das Schicksal der von Hitler geopferten Jugend."
Auf www.hiergeblieben.de bisher veröffentlichte Artikel:
- Lippische Landes-Zeitung, 18.11.2004: "Betrogene Jugend"
- Lippische Landes-Zeitung, 26.10.2004: Verraten und verkauft / Ein Chronist der letzten Kriegsjahre
- Lippische Landes-Zeitung, 19.10.2004: "Betrogene Jugend"
- Lippe aktuell, 16.10.2004: Gebhard Redlin: Autorenlesung "Betrogene Jugend" / Sechzig Jahre danach ...
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