Deister- und Weserzeitung ,
09.02.2005 :
"Das Kriegsende in Hameln war wirklich dramatisch" / Interview mit dem Historiker Bernhard Gelderblomüber seine Forschungen zur lokalen Geschichte der Nazizeit
Hameln. Mit der Erforschung der Hamelner Stadtgeschichte von 1933 bis zur Nachkriegszeit hat sich der Historiker Bernhard Gelderblom einen Namen gemacht. Wolfhard F. Truchseß sprach mit Gelderblom über seine Forschungsarbeit.
Herr Gelderblom, Sie haben sich in Hameln einen Ruf als Historiker erarbeitet. Wie Sie sind sie eigentlich darauf gekommen, die Hamelner Geschichte bezogen auf die NS-Zeit zu erforschen?
Das hängt auch mit meiner Tätigkeit als Geschichtslehrer zusammen. Wir verstehen Geschichte am besten, wenn wir sie in den lokalen und regionalen Zusammenhängen begreifen, in denen wir selbst leben. Da werden abstrakte Zahlen konkret, wenn man einzelne Schicksale anschaut. Und man erkennt, dass es Verantwortlichkeit auch vor Ort auf der unteren Ebene gab und nicht nur in Partei und Regierung in der Hauptstadt. Aber meine Arbeit hat auch mit meiner Generation zu tun. Unsere Väter gehören zu der Generation, die im Dritten Reich beruflich aktiv war, beteiligt war als Täter, als Zuschauer, im Einzelfall auch als Opfer. Diese Geschichte müssen die Kinder eben abarbeiten.
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Projekt?
Das war der jüdische Friedhof von Hameln. Ein damals absolut vergessener Ort, der völlig zugewachsen war. Mit Hilfe einer Arbeitsgruppe der Uni Göttingen wurden alle Inschriften aufgenommen, der Friedhof komplett fotografisch dokumentiert, weil der Steinfraß unglaublich schnell fortschreitet. Mit Hilfe dazugezogener Akten habe ich dann versucht, eine Geschichte des Friedhofs zu schreiben.
Wo wurden die Akten damals aufbewahrt?
Das war damals ein schwieriges Kapitel. Sie lagen im Garten- und Friedhofsamt. Und der damalige Amtsleiter war sehr schwer davon zuüberzeugen, dass es die Akten gibt.
Was für Probleme hatte er denn damit?
Da existiert immer Angst, dass irgendetwas ausgegraben werden könnte, was die Stadt in ein schiefes Licht bringen könnte. Rational nachzuvollziehen ist das nicht.
Wirft man Ihnen in Hameln so etwas wie Nestbeschmutzung vor?
Diejenigen, die das tun, reden leider nicht mit mir. Und die Phase, in der ich anonyme Brief erhielt, ist eigentlich vorüber. Aber ich habe viele erhalten.
Welchen Inhalts?
Judenfreund, Judenknecht, Knecht des Staates Israel - das waren noch die harmlosen. Es hat auch hässliche Dinge gegeben, wo ich dann die Kriminalpolizei eingeschaltet habe. Seitdem es in Hameln keine FAP mehr gibt, ist meine Arbeit absolut ungefährlich. Damals war es das nicht. Sicherlich spaltet meine Arbeit die Gesellschaft noch immer ein bisschen. Ein Teil findet sie sehr wichtig. Ein anderer Teil findet sie längst überflüssig, und ein dritter Teil wird wirklich aggressiv.
Sie haben am letzten Auschwitz-Gedenktag eine Lesung mit Schülern mit Dokumenten aus dem Hamelner Zuchthaus durchgeführt. Hat es Sie überrascht, dass so wenig Jugendliche da waren? Sind Jugendliche an diesen Themen nicht interessiert?
Ich war nichtüberrascht. Auf keiner der bislang neun von der Stadt Hameln organisierten Veranstaltungen zu diesem Tag waren bislang mehr Jugendliche. Das liegt vielleicht auch daran, dass dies eine offizielle Veranstaltung der Stadt ist. Womöglich spricht der offiziöse Charakter Jugendliche nicht so an. Wir haben die Lesung vor den Jahrgängen 10 bis 12 des Albert-Einstein-Gymnasiums noch einmal wiederholt und hatten dabei ein außerordentlich konzentriertes Publikum, das sehr intensiv zugehört hat und sehr betroffen von den Dokumenten war. Ich habe keine Angst, was unsere Jugendlichen in Hameln angeht.
Wie reagieren Familien auf ihre Forschungsarbeiten, die in der Kriegszeit, in der NS-Zeit mit Zwangsarbeitern produziert oder jüdischen Besitz arisiert haben, wenn sie von Ihnen um Unterlagen gebeten werden?
Die Antworten lassen sich fast stereotyp darstellen: Alles ist verloren, zerbombt, verbrannt. Nein, in diesem Kreis gibt es kaum eine Bereitschaft zur Aufarbeitung. Das hängt auch damit zusammen, dass die Schuld immer verdrängt worden ist. Man fühlt sich häufig durch mich angeklagt. Meine feste Überzeugung ist aber: Ich trete nicht als Ankläger auf. Trotzdem werde ich immer wieder so betrachtet.
Spiegeln die, die sich angeklagt fühlen, damit nicht ihre Schuld wider?
Ja, das sind die persönlichen Schuldgefühle, die dann auf mich projiziert werden. Ich selbst sage Zeitzeugen, die ich noch sprechen kann, immer wieder, dass ich froh bin, nicht in dieser Zeit gelebt zu haben, die die Menschen vor so schwere Entscheidungen stellte.
Herr Gelderblom, arbeiten Sie nach Ihrer Zuchthaus-Dokumentation auch am Thema "60 Jahre nach Kriegsende"?
Das ist ein Thema, das mich schon länger beschäftigt. Es geht dabei um ganz unterschiedliche Opfergruppen. Ich mache gerade mit Schülerinnen und Schülern ein Projekt am Friedhof Wehl. Dort liegen die folgenden Opfergruppen: deutsche Soldaten, die in den letzten Kriegstagen unter jämmerlichen Umständen ihr Leben ließen, sehr viele Hamelner Bombenopfer, etwa 300 Menschen, die während der NS-Zeit im Zuchthaus ums Leben kamen, und etwa die gleiche Anzahl Zwangsarbeiter, darunter viele Frauen und Kinder. Und dort liegen auch noch alliierte Soldaten.
Wo liegen denn die nach dem Krieg von den Briten Hingerichteten? Sie werden ja von manchen Menschen zu den Kriegsopfern gezählt ...
Nach dem Kriegsopfergesetz gehören sie nicht zu diesen Opfergruppen. Deswegen haben wir sie zunächst auch aus dem Projekt herausgelassen. Eindeutig dazu gehören die Opfer des Zuchthauses aus der NS-Zeit, denen man diesen Status lange Zeit abgesprochen hatte. Man hatte diese Menschen lange als Kriminelle betrachtet und nicht wahrgenommen, um welchen Personenkreis es sich in Wirklichkeit handelte. Das waren ja in der Mehrzahl politische Gefangene.
Was genau machen Sie mit den Schülern auf dem Friedhof Wehl?
Wir wollen zunächst einmal eine Übersicht erarbeiten, wer in diesen Gräberfeldern liegt. Wir werden versuchen, die Geschichte der jeweiligen Opfergruppe herauszuarbeiten und für jede ein individuelles Schicksal zu rekonstruieren. Früher habe ich mich vor allem um die Schicksale der Verfolgten, der Juden und der Zwangsarbeiter, gekümmert. Jetzt nehme ich auch Opfergruppen ins Blickfeld wie die deutschen Soldaten oder wie die Bombenopfer der Hamelner Bevölkerung. Es ist doch verheerend, dass wir ein gespaltenes Gedenken haben: Die einen denken an Dresden, die anderen an Auschwitz.
Wie groß war die Zahl der Hamelner Bombenopfer?
Das waren etwa 300. Sehr viele davon im Bereich des Bahnhofs. Dort waren die Verluste verheerend. Es gab etwa zehn sehr gezielte Angriffe, die meisten im März 1945. Die letzten Kriegstage und -wochen waren in Hameln die schrecklichsten.
Waren Hameln und das Weserbergland in der NS-Zeit eigentlich besonders braun gefärbt?
Ich weiß nicht, ob Hameln und die Region sehr viel brauner waren als andernorts. Das Bückeberg-Fest hier zu veranstalten, wurde in Berlin entschieden. Was hier sicher fehlt, war nach dem Krieg die Bereitschaft zur Aufarbeitung. Ich erinnere dabei nur an den Streit über die Einebnung der Hingerichteten-Gräber. Da hat ein Teil der Hamelner Bevölkerung sehr stark darum gekämpft, sie als Kriegsopfer-Gräber zu erhalten. Gleichzeitig wurden dann die Gräber der Zuchthaus-Opfer eingeebnet. Man war sich überhaupt nicht im Klaren, um welche Tätergruppen es sich dabei gehandelt hat. Das waren ja Leute, die in Konzentrationslagern gearbeitet und dort massenhaft Menschen gequält hatten. Die wurden später hier als Opfer des Krieges und der Besatzungsjustiz regelrecht verherrlicht. Da ist wenig aufgearbeitet worden.
Wie beurteilen Sie die Umstände, unter denen der Krieg in Hameln zu Ende ging?
Das Kriegsende in Hameln war wirklich sehr dramatisch. Der Stadt hätte ein noch viel schlimmeres Los beschert werden können. Es gab diesen Irrsinnsbefehl, die Weserlinie, und damit auch Hameln, zu verteidigen. Verantwortlich dafür war der Gauleiter Lauterbacher aus Hannover, der dafür nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Die Stadt wurde in Folge dieses Befehlsin Verteidigungsbereitschaft versetzt und zwei Tage beschossen, was noch einmal etwa 100 Tote und die Zerstörung wertvoller Baudenkmäler gefordert hat. Gleichwohl gab es so viel Mut, so viel Geistesgegenwart etwa von sozialdemokratischen oder ehemals kommunistischen Arbeitern, die diesen Befehl, nur verbrannte Erde zu hinterlassen, unterliefen. Hier sollten die Fabriken brennen, die Brücken gesprengt werden, was dann auch geschah, auch die Wesermühle fiel der Sprengung durch deutsche Pioniere zum Opfer.
Empfand Hameln das Kriegsende als Befreiung oder als Katastrophe?
Die Hamelner Bürger empfanden in großer Zahl die ersten Jahre der Nachkriegszeit als schlimme Zeit der Besatzung, die ihnen keine Perspektive auf die Zukunft ließ. Da war Verzweiflung pur und große Wut auf die Besatzer. Und die Ernährungssituation war bis 1947 schlechter als vorher.
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